Die Bluterbin (German Edition)
der Anlage, zum offenen Hof ebenso wie zu den geheimen Ausgängen außerhalb der Befestigungsanlagen, führten und durch die die Festung im Falle einer längeren Belagerung versorgt werden konnte. Doch die Eingänge wurden Tag und Nacht schwer bewacht, und es war unmöglich, unbemerkt hindurchzugelangen.
Enguerrand überließ nichts dem Zufall. Er hatte sich bereits zu viele Feinde gemacht, als dass er sich auch nur die kleinste Unvorsichtigkeit erlauben konnte.
Wenn Robert außerdem den Erzählungen des Stallmeisters Glauben schenkte, würde Marie und ihm eine Flucht sowieso nichts nutzen. Denn selbst wenn es ihnen gelingen würde, an den Wachen vorbeizukommen, würde Enguerrand sie unbarmherzig verfolgen lassen und früher oder später auch erwischen. Als Robert sich endlich eingestand, dass sie unwiderruflich in der Falle saßen und es rein gar nichts gab, was er tun konnte, war er verzweifelt.
Lediglich die Arbeit mit den Pferden lenkte ihn ein wenig von seinen düsteren Gedanken ab. Er war mit Pferden groß geworden und erwies sich im Umgang mit ihnen so geschickt, dass ihn der Stallmeister schon nach wenigen Tagen von der Stallarbeit abgezogen und zur Ausbildung der jungen Pferde eingeteilt hatte.
Aber obwohl Robert deprimiert war, gab er dennoch die Hoffnung nicht auf, irgendwann eine Nachricht an seinen Vater aus der Burg herauszuschmuggeln zu können oder bei den Turnieren, die den Sommer über abgehalten wurden, auf einen Freund oder Angehörigen der Familie zu stoßen.
Er schlief mit den anderen Knechten zusammen in den Pferdeställen und nahm jede Gelegenheit wahr, um Marie zu sehen. Eine verwitterte Holzbank in dem kleinen Garten hinter der Kapelle war zu ihrem geheimen Treffpunkt geworden. Dort erzählten sie sich von ihren Erlebnissen, hielten sich an den Händen und küssten sich lange und zärtlich, innig und leidenschaftlich. Und wenn Robert gedrückter Stimmung war, tröstete ihn Marie und machte ihm wieder neue Hoffnung.
„Wir werden von hier fortgehen, Gott wird uns helfen, ich weiß es.“ Sie sprach voller Überzeugung, und Robert glaubte ihr.
Ständig waren seine Gedanken bei Marie. Solange man sie nur gut behandelte, war er bereit, alles zu tun, was man von ihm verlangte.
Für den nächsten Tag war eine Jagd angesetzt worden, die wie immer mit großem Gefolge stattfinden sollte. Robert hatte alle Hände voll zu tun, um in dem lauten Getümmel aus Menschen und Tieren einigermaßen den Überblick zu behalten. Unzählige Pferde mussten gesattelt, aufgezäumt und ihren Herren übergeben werden. Hunde sprangen bellend umher, und Knappen und Diener beeilten sich, die Befehle ihrer Herren auszuführen.
In den Küchen herrschte ebenfalls ein heilloses Durcheinander, denn für den Abend war ein großes Fest geplant, zu dem noch zusätzliche Gäste von höchstem Rang erwartet wurden.
Gilles wirkte blass und angespannt, und man konnte ihm förmlich ansehen, dass er unter großen Schmerzen litt. Fulcher bemerkte es voller Sorge, als ihn der Küchenmeister zu sich rief, um ihm mitzuteilen, was er noch alles von den Vorräten für den heutigen Abend benötigen würde.
Die Grausamkeit Enguerrands schwebte wie ein dunkler Schatten über ihnen allen. Der jetzige Herr von Coucy hatte es nie verkraftet, dass sein leiblicher Vater ihn zum Bastard gemacht hatte, indem er sich geweigert hatte, die Vaterschaft offiziell anzuerkennen. Eine List, mit der es ihm gelungen war, sich von seiner Frau, Enguerrands Mutter, scheiden zu lassen und seine Geliebte, Sybill de Marle, zu heiraten, die Frau eines Freiherrn aus Lothringen, der sich zu dieser Zeit im Krieg befunden hatte. Der Hass auf seinen Vater und der Neid auf seinen Bruder Raoul hatten sich wie ein bösartiges Geschwür in seine Seele gefressen und keinen Platz mehr für andere Gefühle gelassen. Gemeinsam mit seiner Mutter Adele hatte er stets aus dem Verborgenen heraus gegen seinen Vater gekämpft, offenen Widerstand aber vermieden. Nachdem sein Vater dann bei einem Sturz vom Pferd und ins eigene Schwert ums Leben gekommen war und sein älterer Bruder Raoul II. die Burg verlassen hatte, um sich König Ludwigs Kreuzzug anzuschließen, auf dem er gestorben war, hatte er seine Maske endgültig fallen gelassen und sich an jedem gerächt, der ihm einstmals seine Unterstützung im Kampf gegen seinen Vater verweigert hatte.
Auf der Burg herrschte nur noch ein Gesetz: das Wort Enguerrands des IV.
„Ihr solltet den Medicus rufen lassen“, riet Fulcher
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