Die Bluterbin (German Edition)
länger ertragen.
„Darf ich mir heute den Stoff für mein Hochzeitskleid aussuchen?“, fragte Katharina ihre Mutter.
Eleonore nickte gleichgültig.
Katharina hielt Marie das Geschenk ihres Verlobten hin.
Ihre Augen glitzerten boshaft.
„Das ist für dich“, sagte sie.
Marie sah überrascht auf, als sie auf einen wunderschön geschnitzten Vogel aus gelber Jade sah. Die Augen des daumengroßen Kunstwerkes bestanden aus zwei schimmernden Kristallen. Nie zuvor hatte sie solch ein kostbares Geschenk erhalten.
Sie streckte die Hand aus, um den Vogel entgegenzunehmen, doch in dem Moment, als sie zugreifen wollte, zog Katharina blitzschnell ihre Hand zurück und ließ den kleinen Vogel auf den Boden fallen.
„Wie ungeschickt von mir“, säuselte sie mit gespieltem Bedauern und bückte sich rasch, um den Vogel aufzuheben, bevor Marie ihn erreichen konnte.
Einer der beiden winzigen Kristalle hatte sich gelöst und war über die Holzdielen in eine Ritze hineingekullert.
In Maries Augen glänzten Tränen, doch es kam kein Wort über ihre Lippen.
Katharina sah sie böse an. Sie war neidisch auf das kostbare Kleinod, das Jacques ihrer Schwester mitgebracht hatte, genauso wie sie auf Maries Schönheit und ihre zarte Haut neidisch war. Die ganze Nacht über hatte sie überlegt, ob es Absicht gewesen war, dass gerade Marie den Vogel erhalten sollte, was bedeuten würde, dass sie Jacques besser gefiel als ihre beiden anderen Schwestern. Vor lauter Neid hatte sie kein Auge zubekommen und überlegt, wie sie es Marie heimzahlen könnte.
Sicher hatte Marie Jacques, als sie selbst einen Moment lang nicht aufgepasst hatte, mit ihrem traurigen Blick angesehen.
Katharinas ohnehin schon schrille Stimme wurde noch einmal greller, als sie sich nun vorbeugte und Marie einen herausfordernden Blick zuwarf.
„Du hast doch nicht etwa geglaubt, dass ich dir den Vogel überlasse? Ich weiß genau, dass du mir meinen Verlobten neidest. Wahrscheinlich bekommst du deine komischen Zuckungen extra, weil du nicht willst, dass er mich heiratet.“ Ihre Stimme überschlug sich beinahe vor Wut.
Sie hatte schnell und laut gesprochen und musste einen Moment innehalten, um Luft zu holen.
„Vielleicht gebe ich dir den Vogel nach der Hochzeit“, fuhr sie langsamer fort. „Doch zuerst musst du mir helfen, mein Hochzeitskleid zu nähen, und dabei wirst du dich besonders anstrengen.“
Alle vier Mädchen hatten von klein an gelernt, mit Nadel und Faden umzugehen, und konnten sticken, weben und spinnen, doch keine war so flink und geschickt wie Marie.
Mitleidig hatte Elsa das Gespräch mit angehört. Sie konnte nicht verstehen, dass alle auf der sanften Marie herumhackten, die niemandem etwas zuleide tat und alle Gemeinheiten ohne Widerrede und Gegenwehr über sich ergehen ließ. Sie konnte nicht ahnen, dass Marie sich schuldig fühlte und ihren Schwestern die ständigen Boshaftigkeiten nicht einmal nachtrug. Zugleich bedachte sie ihre Herrin mit einem vorwurfsvollen Blick, weil diese Katharina mit keinem Wort in ihre Schranken wies, doch Eleonore war tief in Gedanken versunken und hatte nicht auf das Geplapper der Mädchen geachtet.
Elsa betrachtete Marie, die still und blass auf ihrem Stuhl saß. Ihre weiße Haut und die dunklen Augen verliehen ihr etwas Fremdartiges, trotzdem oder gerade deshalb würde sie eines Tages eine Schönheit werden.
Noch dazu eine gefährliche Schönheit, die das Begehren der Männer und den Neid der Frauen auf sich ziehen würde, ein Umstand, der Elsa schon jetzt große Sorgen bereitete. Und die Ablehnung, die selbst Maries Eltern ihrer Tochter gegenüber an den Tag legten, verstärkte Elsas Verdacht noch einmal mehr, dass Marie mit einem düsteren Geheimnis behaftet sein musste, das weit zurück in der Vergangenheit liegen musste.
Sie kannte Marie von Geburt an und war die Einzige in der Familie, die ihr Zuneigung entgegenbrachte, fast so, als wäre sie ihr eigenes Kind.
Elsa war erst sieben Jahre alt gewesen, als ihre Eltern sie als Magd in der nahe gelegenen Burg des Grafen untergebracht hatten, ganz wie es bei armen Leuten üblich war, die nicht in der Lage waren, alle Kinder zu ernähren.
Nur noch dunkel erinnerte sie sich an die kleine zugige Kate, in der sie mit ihren Eltern und ihren Geschwistern die ersten Jahre ihres Lebens verbracht hatte. Anfangs hatte sie viel geweint. Der Verwalter der Burg, ein Mann mit spitzem Gesicht und harten Augen, ließ sie von morgens bis abends arbeiten, bis ihre
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