Die Bluterbin (German Edition)
sich damit auch viele Feinde geschaffen, die nur darauf lauerten, dass er einen Fehler beging.
Was Marie betraf, würde er daher also gezwungen sein, mit äußerster Vorsicht vorzugehen.
Sobald sich Marie in der Kathedrale befand, verschlang er sie mit seinen Blicken. Ihr unschuldiger Liebreiz zog ihn mit jedem Tag tiefer in seinen Bann, und seine anfängliche Faszination wandelte sich unmerklich in eine krankhafte Besessenheit, die nicht frei von Leidenschaft war.
Er bemerkte nicht, dass Bruder Gregor ihn aus schmalen Augen beobachtete und sich seine eigenen Gedanken machte. Die Kirche konnte sich keine weiteren Skandale leisten, und Phillip Berruyer, der Erzbischof, hätte längst über die Vorgänge in Bourges informiert werden müssen, doch es war nicht leicht, ihn zu verständigen, da man nie genau wusste, wo er sich gerade aufhielt. Denn als Primas von Aquitanien war er ständig in den verschiedensten Bistümern unterwegs, um Streitereien zu schlichten und nach dem Rechten zu sehen. Trotzdem war der Zeitpunkt gekommen, an dem er wenigstens versuchen musste, ihm eine Botschaft zu übermitteln.
Nachdenklich begab er sich an sein Schreibpult im Scriptorium und schrieb einen langen Brief. Er versiegelte ihn sorgfältig und übergab ihn dann einem Boten, der sich sofort damit auf den Weg machte.
Drei Tage später entdeckte der Knecht des Köhlers abseits des Weges die bis zur Unkenntlichkeit entstellte Leiche eines nackten Mannes im Wald. Da niemand wusste, wer er war, verscharrte man seine sterblichen Überreste im Boden und machte sich keine weiteren Gedanken um den Toten. Wer freiwillig den Schutz der Wege verließ, konnte kein reines Gewissen haben und trug selbst die Schuld an seinem Unglück.
Bernard hatte Wort gehalten und Radulfus beobachtet. Sein hübsches Gesicht war ungewöhnlich ernst, als er Robert am nächsten Tag aufsuchte, um ihm Bericht zu erstatten. Gerade hatte die sechste Stunde geschlagen, und die Mönche befanden sich allesamt bei der Vesper.
„Lasst uns in die Bibliothek gehen“, schlug Robert vor. „Dort werden wir ungestört reden können.“
Bernards Gesicht verzog sich, als hätte er in einen sauren Apfel gebissen. „Meine Kehle fühlt sich in diesem Raum immer an wie eine ausgedörrte Pflaume, und am Ende werde ich noch genauso aussehen“, jammerte er.
Er konnte nun mal den Geruch von Papyrusrollen und Wachs nicht ausstehen.
Robert hingegen liebte die Atmosphäre in der großen Bibliothek, in der das Wissen längst vergangener Zeiten aufbewahrt wurde. In dem warmen, dunklen Raum konnte man in Ruhe stöbern und sein Wissen erweitern. Übersetzungen griechischer Philosophen reihten sich in hohen Regalen an monastische und naturkundlich-medizinische Werke. Abschriften der Bibel, Liturgien, Predigten und Heiligenviten fanden sich genauso wie Werke über Arithmetik, Musik und Astronomie. Selbst den Koran hatte man ins Lateinische übersetzt.
Robert gab nach, und nach einiger Zeit hatten sie schließlich ein ruhiges Plätzchen auf einem Holzstoß im Kräutergarten hinter der Küche gefunden. Das Zirpen der Grillen wurde immer wieder von dem Klappern der Teller und dem Gebrüll des Küchenmeisters übertönt, das aus den kleinen Fensteröffnungen drang und bis zu ihnen hinüberschallte.
„Ihr hattet recht mit Eurer Sorge um Eure kleine Freundin“, begann Bernard, nachdem sie sich gesetzt hatten. „Der Bischof lauert Marie in der Kathedrale auf. Er verbirgt sich hinter einer der Säulen und verschlingt sie geradezu mit seinen Blicken. Es war richtig unheimlich, wie er sie angesehen hat.“
Er legte eine kleine Pause ein, bevor er fortfuhr:
„Zum Salzmarkt hat er sie nicht selbst verfolgt, sondern ihr einen seiner Spione nachgeschickt. Ihr kennt doch Otto, diesen kleinen Speichellecker mit den strohgelben Haaren und dem verschlagenen Blick? Ständig streicht er mit unterwürfiger Miene um den Bischof herum wie ein räudiger Hund. Ich habe immer gewusst, dass er nicht so harmlos ist, wie er tut. Am liebsten hätte ich sein Wissen aus ihm herausgeprügelt, doch ich wollte zuerst einmal mit Euch sprechen.“
Robert hatte ihm aufmerksam zugehört.
„Ich danke Euch, Ihr seid ein wirklicher Freund. Und jetzt wissen wir auch, dass Radulfus Marie tatsächlich beobachtet, nur wissen wir leider immer noch nicht, warum.“
„Er hat irgendetwas vor, davon bin ich überzeugt. Warum sollte er sich sonst solche Mühe machen? Gebt mir so viel Silber, wie Ihr entbehren könnt, und ich
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