Die Blutgabe - Roman
Worte unangenehm.
»Ist vielleicht das letzte Mal.«
Ein Lächeln streifte flüchtig ihr Gesicht. Dann stand sie auf. Will folgte ihrem Beispiel.
»Bis später, Red.«
Mit eiligen Schritten verließen die beiden die Küche. Ihr Geschirr ließen sie einfach stehen.
Allein mit sich und seinen Gedanken erschien Red der Tag unendlich lang. Mehr als eine Stunde verbrachte er damit, ziellos den Garten zu durchstreifen, wobei er den Schießplatz und den Parcours mied, um nicht versehentlich den anderen Menschen zu begegnen. Er wollte niemanden sehen. Und niemanden sprechen. Trotz Claires letzter Worte war er tief in seinem Inneren noch immer verletzt. Außerdem ging ihm die Aufnahmeprüfung nicht aus dem Kopf. War sie also heute? Worin bestand sie? Würde er sie bestehen? Und was das Wichtigste war:
Wollte
er das überhaupt?
Ruh dich aus
, hatte Claire gesagt, und vermutlich war das ein kluger Rat gewesen. Aber Red wusste, er würde so schnell keine Ruhe mehr finden.
Er kehrte in sein Zimmer zurück, weil er nicht wusste, wo er sonst hingehen sollte. Die alte Matratze knarzte und quietschte, als Red Schuhe und Strümpfe abstreifte und sich in die muffig riechenden Kissen fallen ließ. Neben seinem Kopf krabbelte eine kleine Spinne die Wand hinauf, aufgeschreckt von den unerwarteten Bewegungen auf dem Bett. Red folgte ihr mit den Augen und beobachtete, wie sie bis zur Decke empor kletterte, wo sie regungslos verharrte.
Er gehörte hier nicht her, dachte er und knüllte einen Deckenzipfel auf seinem Bauch zu einem Ball zusammen. Er war keiner von diesen Menschen und wollte es auch nicht sein. Auch Blue würde es hier nicht gefallen.
Red drückte das Gesicht in die Kissen und zog die Knie eng an den Körper. Allmählich formte sich ein Entschluss in seinem Kopf.
Er würde gehen, sobald er konnte.
Die
Bloodstalkers
verlassen.
Blue finden, egal, was es kostete.
Und mit ihr an einem Ort leben, wo es keine Mauern gab.
Der Gedanke war tröstlich und hüllte Red ein wie eine warme Decke.
Auch die Spinne über ihm schien sich inzwischen beruhigt zu haben und begann, in der Ecke ein Netz zu spinnen.
Und während Red ihr dabei zusah, bemerkte er gar nicht, wie seine Lider ihm schwer wurden, langsam zufielen und er, ohne sich dessen bewusst zu sein, in einen leichten Schlaf hinüberglitt.
Als er wieder aufwachte, hing dunkelviolettes Abendlicht wie ein Vorhang vor seinem Fenster. Red hätte nicht sagen können, was ihn geweckt hatte. Aber er fühlte sich hellwach wie schon seit Monaten nicht. Seine Wahrnehmung erschien ihm seltsam klar und überdeutlich. Die Konturen der Schnitzerei an seinem Bettpfosten traten trotz der Dunkelheit mit stechender Schärfe hervor. Er konnte die einzelnen Fasern des Kissenbezuges erkennen und den Staub unter seinem Bett riechen. Die Luft war erfüllt mit flüsternden Stimmen, deren Worte Red nicht verstehen konnte. Als er versuchte, genauer hinzuhören, wurde das Flüstern drängender, tanzte um ihn der Luft wie leichter Wind.
Red!
Ein Frösteln überlief ihn, und die Härchen an seinen Armen stellten sich auf.
Sanft streichelten die Stimmen seine Haut.
Red …
Vorsichtig setzte er sich auf. Lauschte. Horchte.
Ein Kichern mischte sich in das Flüstern.
Komm, Red …
Reds bloße Zehen berührten den Läufer. Je länger er lauschte, desto mehr schienen die flüsternden Stimmen zu einer einzigen zu verschmelzen. Einer Stimme, die rief und lockte und ein schmerzlich vertrautes Gefühl in ihm wachrief. Eine Stimme, nach der er sich sehnte, seit er sie zum ersten Mal gehört hatte.
Céleste rief nach ihm. Und sie sang ihr Lied – an diesem Abend nur für ihn.
Wärme breitete sich in seinem Inneren aus. Alle Verzweiflung und Bitterkeit schienen mit einem Mal wie ausgelöscht, aufgesaugt von einem unbeschreiblichen Glück, das ihn wie helles Licht durchfloss.
Céleste rief nach ihm. Sang für ihn.
Berührte ihn …
Red konnte sie spüren, ohne sie zu sehen. Sein Körper bewegte sich wie von selbst, als würde er von einer unsichtbaren Hand gezogen. Und als sei er den Weg schon oft gegangen, wanderte er wie im Traum die Galerie entlang und bog in einen Flur ein, der im tiefen Schatten lag. Nur an seinem Ende war ein Licht. Warmes, freundliches Licht, das ihn anzog wie eine Motte. Eine Tür, die einen Spalt offen stand …
Kerzen hießen ihn flackernd willkommen und warfen ihren zuckenden Schein auf eine schmale Holztreppe.
Von dort kam die Musik. Dort wartete sie auf
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