Die Blutgabe - Roman
ins Mondlicht. Ihre schmalen Züge wirkten in den Schatten uralt und ernst. Mit ihren eisigen Fingern griff sie nach Reds Handgelenk, wie schon so oft zuvor – doch diesmal führte sie es zum Mund. Während sie ihre Zähne in seine Haut grub und zu saugen begann, ließen ihre Augen die seinen nicht einen Moment lang los. Ein brennender Schmerz durchfuhrRed für den Bruchteil einer Sekunde – und dann war ihm, als ob sein Innerstes erstarrte. Das Gefühl hatte nichts gemeinsam mit dem rauschenden Fluss von Célestes Musik. Es war kalter, scharfer Stahl, der jede Faser seines Körpers durchdrang und von innen zu zerschneiden drohte.
Red biss die Zähne zusammen und unterdrückte einen Schrei. Hannahs Blick hielt ihn eisern fest. Red keuchte und fühlte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Sein Körper zuckte und wand sich, ohne dass er etwas dagegen tun konnte – bis Hannah ihn endlich wieder losließ.
Röchelnd fiel er auf die Liege zurück.
Céleste war noch immer neben ihm. Ihre Finger strichen beruhigend über seinen Kopf und linderten den Schmerz.
»Tony«, rief sie leise.
Eine Hand schien Reds Lungen zusammenzupressen, um ihm keine Luft zum Atmen darin zu lassen. Wenn Hannah schon so furchterregend war – welche Gewalt musste dann Tony haben? Der Schatten des riesigen Vampirs ragte bedrohlich über ihm auf. Seine Hand an Reds Hals war so groß, dass er ihm mit einer einzigen Bewegung das Genick hätte brechen können. Doch sein Griff war unerwartet gefühlvoll. Und als er begann, an Reds Hals zu saugen, da war es ihm, als würde sein eigenes Herz zu übernatürlicher Größe anwachsen. Wie tiefe Trommelschläge brachte es seinen Körper in Schwingung und trieb glühende Energie durch seine Adern. Red selbst schien immer kleiner zu werden, je größer sein Herz wurde, und je mehr Energie es durch seine brennenden Glieder pumpte. Sein Atem dröhnte in seinen Ohren, und für einen schrecklichen Augenblick fürchtete Red, vollkommen zu verschwinden, bis er nur noch Herz und Atem sein würde – als es auch schon wieder vorbei war.
Das Mondlicht war dunkel geworden. Die Sicht verschwamm vor Reds Augen, während er zusah, wie Tony zurücktrat. Sein Körper schien nur noch aus Musik und Stahl und Feuer zu bestehen, und er konnte seine Glieder nicht mehr spüren.
»Halte durch, Liebes«, hörte er Célestes Stimme dicht an seinem Ohr – zärtlich, besänftigend und so wunderschön, dass Red am liebsten geweint hätte. »Kris wird sehr vorsichtig mit dir sein. Dir wird nichts geschehen.«
Red konnte Kris nicht einmal sehen. Er spürte nur noch, wie die Schatten sich näherten und das Mondlicht langsam auslöschten.
Dann umfing ihn Dunkelheit. Warm und weich und tröstlich. Für einige wundervolle Augenblicke hatte Red das Gefühl, in ein samtiges, schwarzes Tuch gehüllt zu sein. Niemand konnte ihm hier etwas anhaben. Nichts konnte ihn hier verletzen …
Schließlich verging auch dieser Eindruck, und Red fiel.
Haltlos. In ein tiefes. Leeres. Endloses.
Nichts.
Kapitel Zehn
Insomniac Mansion, Kenneth, Missouri
»Ich glaube, die Vampire sind uns Menschen ähnlicher, als man denkt. Und gleichzeitig sind sie so erschreckend anders …«
Als Red wieder zu sich kam, war er zurück in seinem Zimmer.
Über ihm hatte die Spinne ihr Netz vollendet. Draußen hatte der Tag längst begonnen, und wie auch an den letzten Tagen war der Himmel strahlend blau, ohne eine einzige Wolke am Horizont. Dennoch war es Red, als hinge eine sanfte Dunkelheit über dem Raum, die ihm irgendwie vertraut vorkam – und als er sich schwerfällig aufsetzte, um sich umzusehen, erkannte er auch, warum.
Auf einem Stuhl in der Ecke des Raumes saß Kris und sah aufmerksam zu ihm herüber.
Für einen Augenblick hatte Red das merkwürdige Gefühl, dass er sich erschrecken sollte – tat es aber nicht.
Kris lächelte. »Guten Morgen, Red.«
»Guten Morgen«, murmelte Red verwirrt und versuchte vergeblich, die Erinnerungsfetzen, die aus der letzten Nacht in seinem Kopf geblieben waren, in eine sinnvolle Reihenfolge zu bringen. Was war da nun genau geschehen? Alle Vampire hatten von ihm getrunken, und er hatte befürchtet, sterben zu müssen – mehr bekam er beim besten Willen nicht mehr auf die Reihe.
Da war noch mehr gewesen, er war sich ganz sicher. Céleste … sie hatte noch etwas gesagt. Etwas, das ihm wichtig erschienen war. Aber so sehr er es auch versuchte, er konntedie Information nicht mehr abrufen. Und am Ende – bevor ihm alles
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