Die Blutgraefin
weiterleben, solange der Mörder des Nubiers nicht zur Rechenschaft gezogen worden war.
Andrej hatte die halbe Strecke zum Schloss zurückgelegt, als er abermals ein Geräusch hörte. Irgendetwas strich durch die Baumwipfel. Schnee rieselte in kleinen, schräg fallenden Schleiern zu Boden.
Er hörte das Geräusch kraftvoller Flügelschläge in der Luft, fuhr im
Sattel herum und riss das Schwert aus dem Gürtel.
Doch so schnell seine Reaktion auch sein mochte, sie reichte nicht
aus. Andrej sah einen riesigen, weißen Schatten auf sich zufliegen.
Gelbe Augen blitzten in mörderischer Wut. Dann prallte die Eule mit
solcher Gewalt gegen ihn, dass er aus dem Sattel gerissen und gegen
einen Baumstamm geschleudert wurde und auf der Stelle das Bewusstsein verlor.
Eine kühle Hand lag auf seiner Stirn, als er erwachte. Etwas berührte seine Lippen und versuchte sie auseinander zu zwingen. Er war zu
müde, um sich zu wehren, sodass er gehorsam die Lippen öffnete,
und etwas Kaltes, Bitteres floss in seinen Mund. Als es seine Kehle
hinunterlief, hätte er sich beinahe übergeben. Doch er schluckte tapfer und unterdrückte auch den Hustenreiz, der ihm die Kehle zuschnüren wollte. Dann erst öffnete er die Augen.
Er war wieder im Schloss. Er erinnerte sich nicht, wie er dort hingekommen war. Auch das Zimmer, in dem er sich befand, war ihm
fremd, aber er war ganz zweifellos in Marias Haus. Er erkannte den
Geruch.
»Wie fühlt Ihr Euch, Herr?«
Die Hand, die bisher seine Stirn gekühlt hatte, zog sich zurück, und
ein schmales, von glattem, dunklem Haar eingerahmtes Gesicht
blickte aus traurigen Augen auf ihn herab. Es dauerte einen Moment,
bis er diesem Gesicht einen Namen zuordnen konnte.
»Elenja?«
Er versuchte sich aufzurichten, aber das Mädchen schüttelte den
Kopf und drückte ihn mit erstaunlicher Kraft zurück.
Nein, begriff er. Nicht Elenja war erstaunlich stark - er war erbärmlich schwach.
»Ihr dürft Euch nicht bewegen, Herr«, sagte Elenja. »Ihr seid
schwer verletzt.«
Andrej lauschte in sich hinein. Schwer verletzt war noch milde ausgedrückt. Auch wenn sein Körper die Verletzungen inzwischen wieder geheilt hatte, so spürte er doch noch immer ein schwaches Echo
dessen, was geschehen war. Der Sturz vom Pferd war hart genug
gewesen, um ihm das Genick zu brechen, und die grausamen Klauen
der Eule hatten sein Gesicht zerfetzt und sein linkes Auge zerstört. Er
verstand nicht, warum ihn die Eule nicht getötet hatte. Oder ihr Herr,
der zweifellos in der Nähe gewesen war.
»Keine Sorge«, sagte Elenja. Sie schien seine Bewegung falsch zu
deuten. »Euer Gesicht ist unverletzt. Am Anfang sah es schlimm aus,
aber nachdem die Gräfin Euch gewaschen hatte, waren keine Verletzungen zu sehen.«
»Gewaschen?«
»Ihr wart über und über mit Blut bedeckt«, antwortete Elenja mit
einem heftigen Nicken. »Ich hatte große Angst um Euch, aber es war
wohl nicht Euer Blut.« Sie zögerte einen Moment. »Es muss ein
fürchterlicher Kampf gewesen sein.«
»Ja«, murmelte Andrej. »Das muss es wohl.«
»Ihr wollt nicht darüber reden«, stellte Elenja fest.
Andrej war nicht sicher, ob er es konnte. Er war nicht einmal sicher,
ob er froh darüber war, das Bewusstsein zurückerlangt zu haben.
»Es ist wegen Eures Freundes«, fuhr Elenja fort. Ihr Taktgefühl
schien nicht besonders stark ausgeprägt zu sein.
»Ja«, antwortete Andrej knapp. Natürlich war es nicht ihre Schuld,
aber Elenjas Worte taten weh, denn sie ließen ihn wieder Abu Duns
leere, für alle Zeiten erloschene Augen sehen.
Er presste die Lider zusammen, doch das schien es eher noch
schlimmer zu machen. Brennende Hitze füllte seine Augen, und als
er sie wieder öffnete, konnte er Elenja nur verschwommen erkennen.
Es war ihm peinlich, vor diesem Kind die Fassung zu verlieren. Er
unterdrückte die Tränen und versuchte zu lächeln. Aber es schien
Elenja nicht zu überzeugen, denn sie sah nun noch besorgter aus.
»Ihr wart sehr lange befreundet, nicht wahr?«, fragte sie.
»Ein ganzes Leben lang«, antwortete Andrej.
»Ich weiß«, sagte Elenja
»Woher?«
»Abu Dun hat es mir erzählt«, erwiderte sie. Andrej warf ihr einen
fragenden Blick zu, und sie erinnerte ihn: »Als er mich ins Dorf begleitet hat. Ich glaube, er war ein sehr warmherziger Mensch - obwohl er sich alle Mühe gegeben hat, es zu verbergen.«
»Du bist eine gute Menschenkennerin«, sagte Andrej gegen seinen
Willen. Er wollte nicht über Abu Dun sprechen. Nicht zu diesem
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