Die Blutgraefin
dass jemand - oder etwas - in der Lage sein sollte, ihn so leicht
zu übertölpeln, nagte zweifellos kräftig an seiner Selbstachtung.
»Und danach?«
Abu Dun zuckte unwillig mit den Schultern. »Weiß nicht«, knurrte
er einsilbig. »Vielleicht war es nur ein Ast, der vom Baum abgebrochen ist und mich getroffen hat.«
»Oder ein Stein, der vom Himmel gefallen ist?«, schlug Andrej
spöttisch vor.
Abu Dun spießte ihn mit Blicken regelrecht auf, sagte aber nichts.
»Und dann?«
»Ich konnte…«, begann Abu Dun, brach ab, suchte einen Moment
vergeblich nach Worten und rettete sich dann in ein abermaliges,
knappes Achselzucken. »Vielleicht war es nur ein Traum.«
Er wollte nicht darüber reden. Andrej respektierte das, zumal er zu
ahnen glaubte, was es war, das dem Nubier so sehr zu schaffen
machte. Früher oder später würde Abu Dun von sich aus darüber
sprechen.
Er ließ sein Pferd ein wenig schneller traben. Sie hatten den Weg
erreicht, dem sie am vergangenen Abend gefolgt waren, bevor sie die
Toten am Bach fanden und anschließend auf Ulric und seine Familie
trafen, und wandten sich nach links. Wenn Ulric die Wahrheit gesagt
hatte, dann hatten sie noch einen Ritt von gut vier oder fünf Stunden
vor sich, bevor sie Fahlendorf erreichten.
Und dann?, fragte Andrej in Gedanken. Eine weitere enttäuschte
Hoffnung. Ein weiterer verschwendeter Tag. Eine weitere Drehung
des Messers, das Frederic ihm in die Brust gestoßen hatte. Warum
war seine Seele nicht in der Lage zuzugeben, was sein Verstand
längst begriffen hatte? Dass Abu Dun Recht hatte und seine Suche
nach Maria von Anfang an aussichtslos gewesen war. Er jagte einem
Phantom nach.
Trotzdem trieb er sein Pferd weiter an, sodass Abu Dun kurz zurückfiel, bevor er sich seinem Tempo anpasste und an seiner Seite
weiterritt, ebenfalls beharrlich schweigend, wenn auch aus völlig
anderen Gründen.
Eine Weile ritten sie auf diese Weise stumm nebeneinander her.
Zwei - oder dreimal spürte er deutlich, dass Abu Dun etwas sagen
wollte und vielleicht nur auf ein Stichwort oder eine Aufforderung
wartete, aber Andrej war zu sehr mit sich selbst und seinen eigenen
Gedanken beschäftigt.
Der Tag weigerte sich hartnäckig, heller zu werden. Andrej kam es
so vor, als seien die Temperaturen nach Sonnenaufgang eher noch
gefallen, anstatt zu steigen. Zusätzlich zu seinem Mantel hatte er sich
in eine dicke Wolldecke gehüllt, und auch Abu Dun machte sich im
Sattel klein und zog fröstelnd die Schultern zusammen, um dem
Wind möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Der unerwartet frühe und strenge Wintereinbruch in diesem Jahr hatte möglicherweise
Wien gerettet, vielleicht sogar den Verlauf des gesamten Krieges
verändert, aber Abu Dun und ihm hatte er bislang nichts als Unbehagen und endlose Nächte, in denen sie vor Kälte keinen Schlaf fanden,
beschert.
Andrej war dermaßen in seine eigenen, düsteren Gedanken versunken, dass er erschrocken zusammenfuhr und seine Hand für einen
Moment die Zügel losließ, als Abu Dun sein Pferd anhielt. Andrejs
Tier trabte noch zwei Schritte weiter, hielt dann ebenfalls an, und
Abu Dun schloss mit einer raschen Bewegung zu ihm auf. Andrej
sah Abu Dun fragend an, und ihn beschlich eine böse Vorahnung, als
er des Ausdrucks auf dem Gesicht des Nubiers gewahr wurde. Abu
Duns Blick war starr nach vorne gerichtet, und Andrejs Hand glitt
fast ohne sein Zutun zum Schwertgriff, während er sich in dieselbe
Richtung wandte.
In dem grauen Zwielicht, hinter dem das Licht des Tages sich verkrochen hatte, war die Gestalt fast nur als Schemen zu erkennen; ein
Umriss ohne scharfe Konturen, der mit dem frisch gefallenen Schnee
und dem Nebel zu verschmelzen schien.
Dennoch ließ ihm sein Anblick einen eiskalten Schauer über den
Rücken laufen. Andrej hatte das albtraumartige Gefühl, diese Situation schon einmal erlebt zu haben, was umso rätselhafter war, als er
genau wusste, dass er diesen Mann mit Sicherheit noch nie gesehen
hatte.
Sein Anblick hatte nichts Menschliches, er erinnerte vielmehr an
eine riesige, schneeweiße Eule.
Andrej schüttelte heftig den Kopf, presste die Lider so fest zusammen, dass bunte Blitze und Farbflecke über seine Netzhäute huschten, und zwang sich dann, die unheimliche Gestalt noch einmal aufmerksamer anzusehen.
Natürlich war es niemand, den er kannte, und genauso wenig war es
eine menschengroße Eule. Seine Fantasie hatte ihm einen Streich
gespielt - was nach dem, was er in den
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