Die Blutgraefin
»Mein Name ist Blanche«,
sagte er. Er sprach es französisch aus, auch wenn seine Aussprache
ansonsten keinerlei Akzent aufwies. »Antoine Blanche.«
Andrej ignorierte die dargebotene Hand. »Das glaube ich Euch aufs
Wort«, bemerkte er abfällig.
»Heute wenigstens. Und hier«, bekannte Blanche und zog mit leicht
enttäuschtem Gesicht die Hand zurück.
»Und wie lautet Euer wirklicher Name?«, wollte Andrej wissen.
Der Weißhaarige hob die Schultern. »Ich habe schon so viele Namen getragen, dass ich irgendwann vergessen habe, wie ich wirklich
heiße«, erwiderte er. »Spielt das eine Rolle?«
Statt zu antworten, fragte Andrej kalt: »Wer seid Ihr, Blanche? Was seid Ihr?«
Blanche starrte Andrej nur an. Für einen Moment schien der Blick
der sonderbaren gelben Augen geradewegs durch Andrej hindurchzugehen, dann erschien ein eigentümliches, fast wehmütiges Lächeln
auf seinem Gesicht. »Ich war einmal wie Ihr, Andrej«, sagte er leise.
»Aber das ist lange her. Und ich war einmal ein ganz normaler
Mensch. Das ist noch länger her.«
»Und was seid Ihr heute?«
»Warum wartet Ihr nicht einfach ab?«, fragte Blanche. »Irgendwann werdet Ihr es erfahren - falls Ihr lange genug lebt. Allerdings
glaube ich das nicht.«
»Weil Ihr mich vorher umbringen werdet?«
»Wenn ich das wollte, hätte ich es längst getan«, antwortete Blanche. Er schüttelte so heftig den Kopf, dass sein schulterlanges weißes
Haar flog. »Nein. Ich bin nicht Euer Feind, Andrej. Aber ich habe so
viele wie Euch kommen und gehen sehen, dass ich weiß, wie Ihr enden werdet. Ebenso wie Euer Freund, dieser riesenhafte Tölpel. Ihr
habt Feinde, Andrej. Mächtige Feinde. Nicht viele von uns können
sich rühmen, von ihrem eigenen Volk so gehasst zu werden wie Ihr.«
»Ich gehöre keinem Volk an«, sagte Andrej.
Blanche lachte bitter. »Oh doch, das tut Ihr. Dass Ihr ein Ausgestoßener seid, ändert nichts daran, dass in unseren Adern dasselbe Blut
fließt.« Er lachte noch einmal, und es klang wie eine Drohung.
»Vielleicht hättet Ihr nicht gleich eine ganze Sippe auslöschen sollen,
Andrej. Mir ist es gleich.« Er hob die Schultern. »Aber viele, mit
denen ich gesprochen habe, nehmen es Euch wirklich übel.«
»Sie werden sich wieder beruhigen.«
»Sicher«, bestätigte Blanche. »Irgendwann einmal. Aber ich fürchte, es dauert lange, bis ein Unsterblicher vergisst.« Er trank einen
Schluck Wein. »Doch ich bin nicht hier, um Euch zu bedrohen oder
Konversation zu machen. Wo ist der Muselmane?«
»Wenn Ihr Abu Dun meint«, erwiderte Andrej schroff, »so weiß ich
es nicht. Aber ich nehme nicht an, dass er einen Waldspaziergang
macht.«
»Vielleicht ist es auch besser, dass er nicht hier ist«, sagte Blanche.
»Ihr stellt Fragen, Andrej. Fragen über meine Herrin.«
»Sind sie Euch unangenehm?«, fragte Andrej.
»Warum stellt Ihr diese Fragen nicht derjenigen, die sie am besten
beantworten kann?«, gab Blanche ruhig zurück.
»Was genau soll das heißen?«
Blanche räusperte sich. »Gräfin Berthold erwartet Euch und Euren
Freund heute zum Abendessen«, erklärte er. Er stand auf. »Ich mache
keinen Hehl daraus, dass ich mit dieser Entscheidung nicht einverstanden bin. Aber sie hat nun einmal so entschieden, und es steht mir
nicht zu, ihr vorzuschreiben, was sie zu tun oder zu lassen hat.«
»Gräfin Berthold erwartet uns?«, vergewisserte sich Andrej überrascht. »Auf dem Schloss?« Ihn überfielen düstere Vorahnungen, als
er an die heruntergekommene Ruine dachte, und an das, was darin
wohnte.
Blanche beantwortete seine Frage mit einem kühlen Nicken. »Ich
werde Euch bei Sonnenuntergang am Tor erwarten«, sagte er. »Ein
Teil des Anwesens ist in schlechtem Zustand. Für jemanden, der sich
nicht auskennt, kann es dort gefährlich werden. Also wartet besser
auf mich, sollte ich mich verspäten. Ihr kennt den Weg?«
»Wir werden ihn finden«, sagte Andrej.
Offenbar wusste Blanche nichts von ihrem Besuch auf dem Schloss
in der vergangenen Nacht.
»Dann erwarten wir Euch«, bekräftigte der Weißhaarige im Hinausgehen. »Seid pünktlich. Bei dieser Witterung ist es nicht ungefährlich, nach Einbruch der Dunkelheit in den Wäldern zu sein. Man
sagt, dass sich ein blutrünstiges Raubtier hier herumtreibt.«
Abu Dun kehrte nur wenig später zurück, in Begleitung einer heulenden Windbö, eines Schwalls wirbelnden weißen Pulverschnees
und einer schmalen Gestalt, die kaum größer war als ein Kind und
neben dem
Weitere Kostenlose Bücher