Die Blutgraefin
antwortete Abu Dun. »Es ist ein böser Ort,
Andrej. Ein Ort, den die Menschen meiden sollten. Außerdem habe
ich heute Abend schon etwas vor.«
»Mit der Kleinen von gerade? Dann sei vorsichtig. Sie hat einen
ziemlich eifersüchtigen Freund.«
Abu Dun blieb ernst. »Ich gehe nicht wieder dorthin«, beharrte er.
»Vielleicht hast du ja Recht, und man sollte beide Seiten hören. Geh
du zu deiner Gräfin, und ich rede mit meinem Bauern. Das passt
doch ganz gut.«
»Jetzt spiel bloß nicht den Beleidigten«, sagte Andrej. »Willst du
nicht herausfinden, wer dieser Kerl ist? Ich habe zwar nur ein paar
Worte mit ihm gewechselt, aber ich habe das Gefühl, dass er uns eine
Menge erzählen kann. Über uns.«
»Ich werde ihn fragen, wenn ich ihn das nächste Mal sehe«, erwiderte Abu Dun. Er stand auf. »Schreib mir deine Fragen auf, und ich
prügele die Antworten aus ihm heraus, sobald ich ihn treffe.«
Bis zuletzt hatte Andrej gehofft, dass sich Abu Dun eines Besseren
besinnen und doch mitkommen würde. Aber als er bei Sonnenuntergang durch das Torgewölbe des so genannten Schlosses ritt, war er
allein. Abu Dun war eine gute Stunde vor ihm losgeritten, da er den
weiteren Weg zurückzulegen hatte.
Andrej war hin und her gerissen zwischen Enttäuschung und Erleichterung. Ihm war nicht wohl dabei, allein an diesen unheimlichen
Ort zurückzukehren. Andererseits war es besser, wenn Abu Dun und
Blanche so schnell nicht wieder aufeinander trafen. Der Nubier hatte
noch nie einen Kampf verloren, seit er zum Vampyr geworden war,
und hatte seine Niederlage gegen diesen mächtigen Angreifer noch
nicht verwunden.
Andrej saß ab und hielt nach etwas Ausschau, woran er die Zügel
seines Pferdes festbinden konnte. Im weichen Licht der Dämmerung
konnte er den Hof deutlicher erkennen als in der vergangenen Nacht.
Das änderte jedoch nichts an der bedrohlichen Atmosphäre, die dieser Ort ausstrahlte.
Andrej überwand die Beklommenheit, die in ihm aufstieg, und
zwang sich, seine Umgebung unvoreingenommen zu betrachten. Er
sah die halb verfallene Ruine eines Bauernhofs, der seit wenigstens
einem Jahrzehnt verlassen zu sein schien. Der allgemeine Eindruck
von Alter und Vernachlässigung war noch stärker als bei Nacht, denn
das Dämmerlicht offenbarte manches, was die Dunkelheit unter einem gnädigen Schleier verborgen hatte. Der Schnee, der den ganzen
Tag über gefallen war, hatte die Spuren, die Abu Dun und er in der
vergangenen Nacht hinterlassen hatten, wieder zugedeckt. Von Blanche waren keinerlei Spuren zu entdecken, obwohl es am Nachmittag
aufgehört hatte zu schneien.
Andrejs Blick löste sich von der schäbigen Fassade des Wohnhauses, streifte die baufällige Scheune und den vergammelten Stall, und
blieb schließlich an der Ruine des Turmes hängen. Er vermochte
nicht zu sagen, ob der Turm gewaltsam zerstört worden war oder ein
Opfer von Zeit und Verwahrlosung war. Die Beschädigungen waren
noch größer, als er in der Nacht vermutet hatte.
Andrej sah sich noch einmal unschlüssig um. Blanche hatte ihm
eindringlich geraten, das Anwesen nicht auf eigene Faust zu erkunden. Entschlossen nahm er schließlich sein Pferd am Zügel und ging
zum Eingang des Turmes hinüber. Plötzlich überkam ihn das Gefühl,
beobachtet zu werden. Unruhig musterte er die Fenster und düsteren
Ecken der Gebäude - natürlich war er allein. Andrej lächelte über
sich selbst. Anscheinend hatte ihn Abu Duns Nervosität angesteckt.
Aber er glaubte im Gegensatz zu seinem Gefährten nicht daran, dass
ein Ort böse sein konnte. Dieser Hof wirkte nur deshalb unheimlich,
weil er dem Zweck entfremdet worden war, zu dem er einst erschaffen worden war.
Dennoch zögerte Andrej, bevor er geduckt durch den niedrigen
Eingang des Turmes trat. In der ihn umgebenden Dunkelheit konnte
er zunächst fast nichts sehen. Daher blieb er stehen und schloss die
Augen, damit sie sich an das düstere Zwielicht gewöhnen konnten.
Als er sie wieder öffnete, sah er, dass der Fußboden nur wenige
Schritte vor ihm eingestürzt war und er um ein Haar in ein mehrere
Meter tiefes Kellergewölbe gefallen wäre. Vorsichtig näherte er sich
dem Rand und blickte in die Tiefe. Er konnte nicht viel erkennen.
Was dort unten nicht von Schatten verhüllt war, war von Staub und
Unrat bedeckt. Ein strenger Geruch schlug ihm entgegen, den er
nicht einordnen konnte, obwohl er sicher war, ihn zu kennen.
Das leise Knirschen von Schritten im Schnee ließ ihn
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