Die Blutgraefin
Schritt blitzschnell
einkreisen konnten.
»Nichts weiter«, erwiderte er lächelnd. »Ich habe nur sehr genau
zugehört, was Ihr über die Hexe erzählt. Von den sechs Mädchen, die
angeblich verschwunden sind, erfreuen sich wenigstens drei bester
Gesundheit. Mit einem haben Abu Dun und ich vor zwei Tagen
selbst gesprochen. Was das zweite angeht, haben wir zwar nur Pater
Lorenz’ Wort, was mir allerdings reicht. Und Elenja hat mir heute
Morgen das Frühstück zubereitet, obgleich doch gerade erst Neumond war.«
»Elenja?«, mischte sich Stanik ein. Er nahm die Hand vom Schwert
und kam aufgeregt einen Schritt näher. »Sie lebt? Wie geht es ihr?«
Andrej blickte ihn kalt an. »Wie würde es dir gehen, wenn du gerade erfahren hättest, dass jemand deine gesamte Familie umgebracht
hat?«
Stanik setzte zu einer Antwort an, doch sein Vater brachte ihn mit
einer herrischen Geste zum Schweigen. »Und auch darauf haben wir
zweifellos Euer Wort, Andrej«, sagte er in einem Tonfall, in dem so
viel Herablassung und Verachtung mitschwang, dass Andrej sich
mehr denn je zusammennehmen musste, ihn nicht einfach niederzuschlagen. Er wollte antworten, doch Abu Dun kam ihm zuvor.
»Nein«, sagte er. »Nicht nur sein Wort. Auch meins…« Er drehte
sich zu Lorenz um und nickte, woraufhin sich der Geistliche mit
schnellen Schritten entfernte und die Tür zur Sakristei öffnete.
Nicht nur Andrej zog verblüfft die Augenbrauen hoch, als ein dunkelhaariges, blasses Mädchen zum Vorschein kam. Es war Elenja.
Ihr Gesicht hatte noch das letzte bisschen Farbe verloren. Zugleich
schien auch jedes Leben daraus gewichen zu sein, aber der Ausdruck
in ihren Augen verriet Andrej, dass sie hinter der Tür gestanden und
jedes Wort gehört haben musste. Jetzt war ihm klar, worüber Abu
Dun und der Geistliche geredet hatten. Er musste zugeben, dass diese
kleine Aufführung ihre Wirkung nicht verfehlte. Weder auf ihn noch
auf die anderen Anwesenden, und erst recht nicht auf Ulric und seinen Sohn. Dennoch verstand er nicht genau, was sie damit bezwecken wollten.
»Elenja!«, rief Stanik aus. Sein Vater wollte ihn zurückhalten, doch
er wirbelte bereits herum, rannte mit wehendem Mantel auf das
Mädchen zu und wollte es in die Arme schließen. Elenja wich jedoch
mit einer so erschrockenen Bewegung zurück, dass Stanik erstarrte.
Für einige Augenblicke wirkte er hilflos.
»Aber was…«, murmelte er.
Elenja machte einen weiteren Schritt zurück und stellte sich hinter
Vater Lorenz, der sich ein wenig weiter aufrichtete, sodass er Ulrics
Sohn nun um eine gute Handspanne überragte.
»Elenja, was… was tust du?«, fragte Stanik. »Ich bin es. Erkennst
du mich nicht?« Ohne die Antwort des Mädchens abzuwarten, wirbelte er herum und starrte Andrej an. »Was hast du mit ihr gemacht?«, schnappte er. »Was hast du ihr erzählt?«
»Nichts«, sagte Andrej. »Ich glaube nicht, dass ich ihr irgendetwas
mitteilen konnte, was ihr nicht schon bekannt war.«
Stanik presste die Lippen aufeinander. Er drehte mit einem Ruck
den Kopf, starrte zuerst Lorenz, dann das Mädchen und schließlich
hasserfüllt wieder Andrej an. Gebieterisch streckte er den Arm aus.
»Komm hierher«, befahl er.
Elenja zog sich noch ein Stück weiter hinter den Geistlichen zurück, und Lorenz verschränkte herausfordernd die Arme vor der
Brust. Stanik wiederholte seine Aufforderung, erreichte damit aber
nicht mehr, als dass das Mädchen noch weiter zurückwich. Schließlich fuhr er wieder zu Andrej herum.
»Du verdammter…«, begann er.
»Stanik!«, sagte Ulric scharf.
Stanik verstummte, auch wenn der Blick, den er seinem Vater zuwarf, fast ebenso feindselig war wie der, mit dem er Andrej gemustert hatte. Ulric trat zwischen ihn und Andrej.
»Ihr treibt ein gefährliches Spiel, Andrej«, sagte er. »Ich hoffe, das
ist Euch klar.«
»Ich habe die Regeln nicht gemacht«, erwiderte Andrej. »Ihr habt
mich gebeten, zum Schloss zu gehen und mit der Gräfin zu reden.
Das habe ich getan. Mehr nicht.«
»Mehr nicht?«, wiederholte Ulric herausfordernd. Ein hämischer
Glanz trat in seine Augen. »Ja. Da bin ich sicher.«
Obwohl er wusste, wie unsinnig es war, setzte Andrej zu einer wütenden Antwort an, doch Elenja kam ihm zuvor.
»Bitte, hört auf zu streiten!«, rief sie. Als wäre Stanik mit einem
Male nicht mehr da, trat sie hinter Pater Lorenz hervor und hob besänftigend die Arme. »Ich will nicht, dass ihr euch meinetwegen
streitet. Mir ist nichts geschehen,
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