Die Blutgraefin
sogar die Kapuze vom Kopf gerissen, sodass sie nun erleichtert aufatmete, als die Bäume vor ihnen
auseinander wichen und sie wieder besser sehen und schneller reiten
konnten.
»Wer hat dich in die Stadt geschickt?«, fragte Andrej. »Blanche«,
antwortete Elenja. »Die Gräfin wollte nicht, dass ich gehe, aber er
sagte mir, dass es besser sei, mich bei der Versammlung blicken zu
lassen, damit kein Unglück geschieht. Weißt du, was er damit gemeint hat?«
»Blanche wusste von der Versammlung?«, fragte Andrej überrascht.
Das Mädchen nickte. »Ja. Genau wie die Gräfin. Sie sagte, Pater
Lorenz hätte alle zusammengerufen, um…« Sie brach ab. Plötzlich
verdunkelten sich ihre Augen, als sie sich an den Grund der Versammlung erinnerte. Sie presste die Lippen aufeinander, kämpfte
einen Moment tapfer gegen die Tränen und versuchte sogar weiterzusprechen, brachte jedoch nur einen sonderbaren Laut zu Stande,
der eher wie ein schreckliches Lachen klang.
»Schon gut«, sagte Andrej. »Weine ruhig, wenn dir danach zu Mute
ist. Es hilft.«
Doch Elenja weinte nicht. Ihre Tränen versiegten, bevor sie den
Weg aus ihren Augen finden konnten, und der Schmerz, der sich auf
ihrem Gesicht ausgebreitet hatte, machte wieder jener furchtbaren
Leere Platz, die Andrej am Morgen gesehen hatte. Sie sah ihn zwar
an, aber ihr Blick schien durch ihn hindurchzugehen und sich auf
einen Punkt zu richten, der in den tiefsten Abgründen des Schreckens
lag.
»Was wirst du jetzt tun?«, fragte Andrej leise, um das Mädchen auf
andere Gedanken zu bringen. »Bleibst du bei der Gräfin, oder gehst
du zurück nach Hause?«
»Nach Hause?« Elenja zog die Unterlippe zwischen die Zähne und
schloss die Hände so fest um das Zaumzeug, dass ihre Knöchel blau
durch die steif gefrorene Haut traten. »Da ist niemand mehr.«
»Dennoch gehört der Hof jetzt dir«, sagte Andrej. »Was ist mit deiner Mutter?«
»Sie ist schon lange tot«, antwortete das Mädchen. »Ich habe sie
gar nicht richtig gekannt. Vielleicht gehe ich später zurück. Solange
mich die Gräfin behalten will, werde ich wohl bei ihr bleiben.«
»Und Stanik?«, fragte Andrej geradeheraus.
Elenja hob die Schultern. »Er wird wohl bekommen, was er will«,
sagte sie.
Was immer sie damit auch meinte, es machte Andrej wütend. Er
hatte nicht vergessen, wie grob Stanik das Mädchen am Morgen behandelt hatte. Den mörderischen Ausdruck in den Augen des jungen
Mannes hatte er erst recht nicht vergessen. Dennoch schwieg er.
Ganz gleich, was er von Stanik und dessen Familie hielt - er war
möglicherweise Elenjas einzige Möglichkeit, einem Leben voller
Armut, Angst und Demütigungen zu entgehen.
»Es ist jetzt nicht mehr sehr weit«, sagte Elenja. »Wirst du der Gräfin sagen, was vorhin passiert ist?«
Andrej sah sie verständnislos an. »Warum nicht?«
»Wegen Blanche«, antwortete das Mädchen. »Er hasst Staniks Vater und seine ganze Familie. Die Gräfin glaubt, dass er nur nach einem Vorwand sucht, um ihnen etwas anzutun.«
»Und du möchtest nicht, dass ich ihm diesen Vorwand liefere«,
vermutete Andrej. Er schüttelte den Kopf.
Elenja schenkte ihm einen dankbaren Blick und wollte etwas sagen,
doch in diesem Moment hob Andrej warnend die Hand und legte
lauschend den Kopf auf die Seite. Er hatte ein Geräusch gehört, das
nicht in den winterlichen Wald passte. Er hielt sein Pferd an und
suchte die Baumwipfel und den Himmel darüber mit Blicken ab.
Bald sah er sie.
Die Eule näherte sich ihnen mit scheinbar trägen, behäbigen Flügelschlägen, flog dabei aber überraschend schnell. Vor den hellgrauen
Wolken war sie kaum zu erkennen und selbst für Andrejs scharfe
Augen nicht viel mehr als ein verschwommener Schemen, der seinem Blick immer wieder entglitt. Sie flog über sie hinweg und in
gerader Linie in die Richtung, in die Elenja gedeutet hatte, so als lege
sie Wert darauf, von ihnen gesehen zu werden. Gerade als sie direkt
über ihnen war, drehte sie den Kopf und starrte Andrej für die Dauer
eines schweren Flügelschlages aus ihren großen gelben Augen an.
Dann war sie ebenso schnell wieder verschwunden, wie sie aufgetaucht war.
Auch Elenja hatte ihr Pferd angehalten und sah dem Tier schaudernd hinterher. »Was hast du?«, fragte Andrej.
»Diese Eule«, antwortete das Mädchen. »Ich habe sie schon ein
paar Mal gesehen. Sie ist unheimlich.«
Unheimlicher, als du dir vorstellen kannst, dachte Andrej. Laut
fragte er: »Unheimlich? Wieso?«
»Ich weiß
Weitere Kostenlose Bücher