Die Blutgruft
aber ihr Blick sagte mir, dass ich ihr vertrauen konnte und sie innerlich stark genug war. Zudem hörte ich auf mein Gefühl, das mir sagte, auf dem richtigen Weg zu sein.
»Sie dürfen jetzt nicht feige sein, John. Sehen Sie in mir bitte nicht die alte bettlägerige Frau, sondern mehr eine Partnerin, die Ihnen möglicherweise helfen kann.«
»Das dachte ich auch.«
»Dann überspringen Sie den Graben, bitte schön.«
Ich musste mich erst sammeln, um die richtigen Worte zu finden. Es ging ja auch um die verschwundenen Frauen, und mit ihnen fing ich an.
»Eine der Frauen ist wieder zurückgekehrt«, sagte ich leise.
»Wer?«
»Jessica Flemming.«
»Gut, John. Ich könnte es jetzt auf sich beruhen lassen, was ich nicht tun werde, denn ich denke, dass diese Rückkehr nicht unbedingt normal gewesen ist.«
»Ja, so sieht es aus.«
»Soll ich raten?«
»Bitte.«
Elisa lächelte bitter. »Ich nehme an, dass sie kein normaler Mensch gewesen ist, obwohl sie beim ersten Hinsehen so aussah. Sie muss verändert gewesen sein.«
»Bisher stimmt alles.«
»War sie...«, Elisa schluckte, »war sie vielleicht eine Blutsaugerin? Eine Vampirin? Ein Ungeheuer, das sich vom Lebenssaft eines Menschen ernährt? Ist sie das gewesen?«
»Leider.«
Der Kopf sank etwas in die Mulde des weichen Kissens zurück. »Dann glauben Sie an Vampire?«
»Nicht nur das, Mrs. Bancroft. Ich weiß, dass es sie gibt. Ich weiß auch, dass hier irgendwo eine Blutgruft existiert. Das haben wir inzwischen herausgefunden. Aber die Menschen wollen es nicht wahrhaben. Sie scheinen die Vergangenheit und deren Folgen einfach vergessen zu haben. So sehe ich die Dinge.«
Ich kannte den Grund nicht, weshalb sich die Augen der Frau mit Tränen füllten, aber es passierte. Einige helle Perlen rannen an ihren Wangen nach unten.
Natürlich lagen mir noch zahlreiche Fragen auf der Zunge. Ich verschluckte sie, weil ich warten wollte, bis sich Elisa Bancroft wieder gefangen hatte.
Sie deutete auf die Wasserflasche. Ich füllte Wasser in das bereitstehende Glas und ließ sie trinken. Sie bedankte sich. Danach ging es ihr besser, und sie konnte wieder reden.
»Was passierte mit Jessica?«
Die Antwort fiel mir nicht leicht, das erkannte sie auch und kam mir zuvor. »Es gibt sie nicht mehr – oder?«
»Richtig. Wir haben sie erlösen müssen. Es gab keine andere Möglichkeit. Jessica Flemming kehrte als blutsaugendes Monstrum zurück. Sie hat bereits gemordet und ihre Visitenkarte hinterlassen. Zum Glück ist das Opfer nicht zu einer Untoten geworden, weil Jessica gestört wurde. Das ist Vergangenheit. Es gibt sie nicht mehr, aber es steht fest, dass der Fall damit nicht gelöst worden ist.«
»Stimmt, John. Es gibt noch vier weitere Frauen, die verschwunden sind und um die ich weinen muss.«
»Warum berührt Sie das so stark?«
Durch den offenen Mund saugte sie die Luft tief ein. »Das ist ganz einfach erklärt. Ich trage die Schuld daran, dass Jessica zu dieser Bestie geworden ist.«
»Sie?«, flüsterte ich überrascht.
»Ich. Und wenn die anderen das gleiche Schicksal erlitten haben, wovon ich ausgehen muss, dann muss ich mir das ebenfalls vorwerfen, Mr. Sinclair. Es geht nicht anders.«
Ich verzog die Lippen zu einem Lächeln, obwohl ich es nicht wollte. »Sind Sie bereit, mit mir darüber zu sprechen?«
»Und ob. Ich habe immer darauf gewartet, dass ein Mensch wie Sie erscheint, mit dem ich reden kann. Ich schenke Ihnen mein Vertrauen, weil ich spüre, dass Sie diesen Fall lösen können, denn es geht wirklich um die Blutgruft.«
»Dann gibt es sie also«, sagte ich.
»Leider«, flüsterte Elisa Bancroft. »Leider gibt es sie. Und sie existiert schon lange.«
»Wie alt ist sie?«
»Über zweihundert Jahre alt.« Ihr Blick verlor sich. Es sah aus, als wäre sie dabei, in die Vergangenheit einzutauchen. Sie leckte mit der Zungenspitze über die leicht spröden Lippen und begann mit flüsternder Stimme:
»Amerika war schon immer ein Einwanderungsland. Von Europa kamen die Menschen zu uns, weil sie hofften, hier neue Chancen zu bekommen, denn in ihren Ländern ging es ihnen oft schlecht. Viele kamen, sehr viele. Aber nicht nur Heilige. So waren die Menschen nie. Es gab schon immer Gute und Böse, und als solche sind sie auch hier in die Staaten eingesickert. Man kann zwar sein Land hinter sich lassen, Mr. Sinclair, aber man bringt sich selbst immer mit in die Fremde. Und man bringt auch das mit, was man vielleicht nicht mitbringen
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