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Die Blutige Sonne - 14

Die Blutige Sonne - 14

Titel: Die Blutige Sonne - 14 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Zimmer-Bradley
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befehlende Geste, und Kerwin setzte sich gerade, äußerst beeindruckt von der Autorität ihrer Handbewegung. Was machte sie da, die alte Murmelhexe?
    Der Kristall auf dem Tisch, sein eigener Kristall, glühte und schimmerte. Der Kristall in dem Weidenrahmen zwischen den gewölbten Händen der Frau begann langsam in einem blauen Feuer zu glimmen. Das Licht im Zimmer schien sich zu verdichten, von diesem blauen Mittelpunkt auszustrahlen. Kerwin saß eine ganze Weile da, während die Frau in den Kristall starrte und vor sich hinmurmelte. Es erschien ihm, als sei die Frau in Trance. Wenn sie eine echte Hellseherin war, konnte sie vielleicht seine Fragen beantworten.
    „Wer bin ich?“ fragte er.
    „Du bist der, der gesandt wurde“, sprach sie leise und mit schwerer Stimme. „Es war eine Falle, die nicht zuschnappte. Das wußten sie nicht, die stolzen Com’yn . Erinnerst du dich an den Ort in Thendara?, Cleindori…“
    Die Lichter im Kristall schienen sich plötzlich zu einer strahlenden Flamme zu vereinigen. Kerwin zuckte zusammen, als schneide ihn ein Messer in die Augen, aber er konnte sich nicht bewegen. Und dann schob sich ein Bild vor seine Augen, so klar und deutlich, als sei es auf die Innenseite seiner Lider gezeichnet:
    Zwei Männer und zwei Frauen, alle in Darkovaner-Kleidung, saßen um einen Tisch, auf dem ein Kristall lag – ähnlich dem, den er hier vor sich hatte. Eine der Frauen, sehr schlank, sehr schön, beugte sich über ihn und klammerte sich mit großer Kraftanstrengung an den Tisch. Ihr von hellem rotblondem Haar eingerahmtes Gesicht war ihm spukhaft vertraut. Wo hatte er sie schon einmal gesehen? Die Männer und die andere Frau, die ihr so ähnlich sah, daß sie ihre Schwester sein konnte, beobachteten sie wie verzaubert, während kaltes Feuer um ihre Hände spielte. Dann löste einer der Männer, ein kleiner dunkler Mann in juwelenbesetzem Kragen die um den Kristall gekrümmten Finger der Frau. Die blauen Feuer erloschen, und die zarte Frau sank zurück; sie zitterte und stützte sich schwer auf den Arm des Mannes. Das Bild verschwamm. Kerwin sah ziehende Wolken, Nieselregen… Ein Mann schlenderte durch einen Gang mit hohen Säulen, ein Mann in einem juwelenbesetzen Mantel, groß und stolz. Kerwin atmete schwer, als er das Traumgesicht seiner vagen Erinnerungen erkannte.
    Das Bild verengte sich wieder zu einem Zimmer mit hohen Wänden. Die Frau war da mit den beiden Männern. Kerwin schien alles aus einer eigenartigen Perspektive zu sehen, Entsetzen und plötzliche Trauer machten ihn zittern. Er schien sich auf eine geschlossene Tür zu konzentrieren, eine sich drehende Türklinke; langsam, sehr langsam bewegte sich die Tür, dann flog sie plötzlich zurück, und zwei dunkle Gestalten erschienen.
    Kerwin schrie. Es war nicht seine eigene Stimme, sondern die eines Kindes, dünn, in namenlosem Schrecken, ein wortloser Entsetzensschrei. Er warf sich vorwärts über den Tisch, das Bild verdunkelte sich vor seinen Augen, aber die Schreie gellten und gellten in seinen Ohren noch lange, nachdem sein eigener Schrei ihn wieder ins Bewußtsein zurückgeholt hatte.
    Halb betäubt streckte er sich und legte langsam die Hand über die Augen. Als er sie wieder wegnahm, war sie feucht von Schweiß – oder von Tränen. Verwirrt schüttelte er den Kopf. Er war nicht in jenem Zimmer mit den hohen Wänden, das die blassen Schatten des Entsetzens geborgen hatte. Er stand in dem kleinen Zimmer der ärmlichen Hütte, und die Frau auf der anderen Tischseite war nach vorn gesunken; ihr Körper lag auf dem Weidenrahmen, der Kristall war auf die Erde gefallen. Er schimmerte nicht mehr in blauen Lichtern. Kerwin sah ein wenig verwirrt und ärgerlich auf die Frau hinab, denn diese Bilder hatten ihm nichts erklärt, gar nichts. Waren sie eine alte Erinnerung? Weshalb hatte er geschrien? Er schluckte vorsichtig; seine Kehle fühlte sich eigenartig rauh an, seine Stimme klang brüchig.
„Was, zum Teufel, soll das alles bedeuten?“
    Die Frau sprach nicht; sie lag bewegungslos. Kerwin überlegte; war sie betrunken oder von Drogen betäubt? Er schüttelte sie an der Schulter.
    Mit einer fast nachtwandlerischen Anmut glitt die Frau vom Tisch, taumelte seitwärts auf den Boden. Entsetzt sprang Kerwin über den Tisch und kniete an ihrer Seite nieder. Aber bevor er sich noch bewegt hatte, wußte er, was geschehen war.
    Die Frau war tot.
    [5]
    In angstvollem Unglauben stand Kerwin einen Moment neben der toten Frau und

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