Die Blutige Sonne - 14
meinte, du könntest dich verlaufen, wenn du in die Halle hinabgehst – das ist das große Zimmer unten. Ich wollte dir nur den Weg zeigen.“
Elorie trug ein durchsichtiges, mit Sternblumenranken und Kirschen besticktes Gewand; sie stand unmittelbar neben einem Gemälde, und die Ähnlichkeit war verblüffend. Kerwin sah vom Bild zu dem zarten, flammenhaarigen Mädchen. „Hast du für dieses Porträt gesessen?“ fragte er.
Sie sah gleichgültig hinauf, „Nein, das ist meines Vaters Großmutter“, antwortete sie. „Die Frauen jener Zeit hatten eine besondere Vorliebe, als legendäre Gestalten gemalt zu werden. Ich habe dieses Kleid allerdings nach dem Bild kopiert. Komm jetzt.“
Sie war nicht sehr freundlich, kaum sehr höflich, aber sie nahm ihn wie selbstverständlich auf.
Vor der langen Treppe nach unten blieb Elorie in einer Fensternische stehen, die den Blick auf den Sonnenuntergang freigab. „Sieh mal, von hier aus kannst du, wenn du gute Augen hast, gerade noch die Spitzen der Berge von Thendara sehen. Dort gibt es auch einen Com’yn turm, und noch einige sind über ganz Darkover verstreut. Einige davon sind jetzt allerdings unbewohnt.“
Kerwin strengte die Augen an, aber er sah nur die weiten grünen Ebenen und in der Ferne die in blauem Dunst verschwimmenden Hügel. „Alles ist so verwirrend“, sagte er. „Ich weiß immer noch nicht, was Com’yn bedeutet. Oder was sie tun. Oder was eine Wärterin ist – außer“, fuhr er lächelnd fort, „daß sie ein sehr schönes Mädchen ist“
Elorie sah ihn an; er senkte den Blick vor den kindlichen Augen, denn er fühlte, daß sein Kompliment grob und aufdringlich gewesen war.
„Was wir tun, ist leichter zu erklären, als was wir sind. Eine Wärterin arbeitet im Mittelpunkt einer Gruppe von Matrixtechnikern.
Sie stellt den Kontakt zwischen den anderen her; ein zentraler Koordinator, eine telepathische Kontrolle, könnte man sagen. Es gibt nur weibliche Wärter. Wir verbringen unsere ganze Kindheit mit dem Training dafür, und manchmal“ – sie wandte sich ab und sah zum Fenster hinaus auf die Berge – „verlieren wir diese Kraft nach wenigen Jahren.“
„Verlieren? Wieso?“
Elorie zuckte die Achseln, antwortete aber nicht. Erst sehr viel später wurde Kerwin klar, wie sehr Elorie seine telepathischen Kräfte überschätzt hatte, daß Elorie in ihrem ganzen Leben keinem Mann, keinem Menschen überhaupt begegnet war, der nicht klar alle jene Gedanken zu lesen vermocht hatte, die sie unausgesprochen ließ. Er ahnte noch nicht, in welcher Abgeschlossenheit die jungen Wärterinnen aufwuchsen.
„Wärter ist also immer eine Frau; die anderen Personen im telepathischen Ring sind meist Männer. Diese Arbeit, das Wärterinnenamt ausgenommen, wäre für Frauen zu schwer und zu gefährlich. Wir hoffen, daß du gut mit mir arbeiten wirst.“
„Das hört sich vielversprechend an“, antwortete Kerwin. Elorie wirbelte herum und sah ihn in ungläubigem Staunen an. „Schweig! Schweig!“ rief sie; ihre Augen flammten, die Wangen glühten.
Kerwin trat hil flos einen Schritt zurück. „Nehmen Sie es bitte nicht zu ernst, Elorie. Wenn ich Sie beleidigt haben sollte, tut es mir schrecklich leid, aber – ich weiß nicht, wie es geschah.“
Ihre Hände umklammerten das Treppengeländer mit so hartem Griff, daß die weißen Knöchel hervortraten. Sie sahen so zerbrechlich aus, diese Hände. Nach einem Moment des Schweigens warf sie den Kopf zurück. „Ich wollte gerade deine Fragen über die Com’yn beantworten. Es gibt auf Darkover sieben Telepathenfamilien.“
„Und ich dachte, ganz Darkover wimmele von Telepathen“, platzte Kerwin heraus.
Ihre Augen waren kühl und wachsam. „Ich spreche nicht von der Fähigkeit, gedachte Worte zu empfangen. Jeder hat diese Gabe bis zu einem gewissen Grad. Ich meine den ganzen Umfang der besonderen psychokinetischen Fähigkeiten, die in alten Zeiten in unserer Kaste entwickelt wurden; besonders die Gabe, mit dem Matrix umzugehen. Ich nehme an, du weißt, was ein Matrix ist.“
„Nicht genau.“
„Das dachte ich mir. Wir haben dich mit Cleindoris Matrix gefunden“, erklärte Elorie. „Das bewies, daß du laran, das Kennzeichen unserer Kaste, geerbt hast. In seiner einfachsten Form ist der Matrix ein Kristall, der auf Gedanken reagiert. Ich könnte dir von Raumgittern erzählen, von neuro-elektronischen Netzen, von kinetischen Energonen, aber das soll dir Rannirl beibringen; er ist Techniker.
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