Die Blutige Sonne - 14
Matrixkristalle können so einfach sein, wie der hier“ – sie berührte den kleinen Kristall, der, entgegen aller Schwerkraft, ihr dünnes Gewand am Hals aufzuhängen schien. „Oder sie können sehr groß sein, synthetische Schirme mit einer ungeheuer genauen Kristallstruktur im Innern. Sie strahlen die reine Energie des magnetischen Feldes eines Planeten aus und leiten sie in Kanäle, entweder als Energie oder als Materie. Hitze, Licht, kinetische oder potentielle Energie, die Synthese von Rohmaterial in brauchbarer Form – all diese Möglichkeiten können durch den Matrix geschaffen werden. Weißt du, daß Gedankenströme, Gehirnrhythmen, in Wirklichkeit elektrische Funktionen sind?“
„Nicht sehr genau“, antwortete Kerwin wieder.
„Nun, Gedankenströme, selbst jene der Telepathen, können das materielle Universum nicht beeinflussen. Sie können nicht einmal das Gewicht eines Haares bewegen. Aber der Matrixkristall kann diese Ströme – das richtige Wort heißt, glaube ich – verstärken, und zwar ganz enorm. Sie wirken als Katalysatoren bei der Umwandlung von Kraft in Form, mehr nicht.“
„Und die Wärterinnen?“
„Einige Matrixkristalle sind so kompliziert, daß eine einzelne Person nicht damit fertig wird. Man braucht dann die Gemeinschaft einiger darauf konzentrierter Geister, die einen Energiering bilden. Eine Wärterin verwaltet sozusagen die Kraft. Das ist alles, was ich dir sagen kann“, schloß sie plötzlich, wandte sich um und deutete auf die Treppe. „Hier hinunter.“ Sie ging vor ihm her in einer Wolke duftigen Stoffes, und Kerwin sah ihr verblüfft nach. Hatte er wieder etwas Beleidigendes getan? Oder war es die Laune eines Kindes?
Dann stand er wieder in der großen Halle mit dem Kaminfeuer, in dem man ihn willkommen geheißen hatte. Willkommen – zu Hause? Sein Zuhause? – Die Halle war leer; er ließ sich auf einen der niedrigen Sitze fallen und stützte seinen Kopf auf die Hände. Wenn man ihm nicht bald ausreichende Erklärungen gab, mußte er vor Angst verrückt werden!
So fand ihn Kennard, als er, ein wenig hinkend, durch die Tür trat. Kerwin blickte dem alten Mann entgegen. „Ich glaube, ich bin etwas verwirrt“, stotterte er hilflos. „Tut mir leid. Das ist alles etwas zuviel auf einmal.“
Kennard sah ihn mit einer seltsamen Mischung von Mitleid und Belustigung an. „Ja, ich kann mir vorstellen, wie dir zumute ist.“ „Mir schwirrt der Kopf“, bekannte Kerwin.
Kennard ließ sich in die Kissen sinken und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. „Vielleicht kann ich dir einiges klarmachen.“ „Kennard, wer bin ich? Und weshalb, in aller Welt, bin ich hier?“ Kennard überhörte diese Frage. „Weißt du, was ich in jener Nacht im Sky-Harbor-Hotel gesehen habe?“ fragte er.
„Tut mir leid, ich bin nicht zum Raten aufgelegt.“
„Erinnerst du dich? Ich wußte nicht, wer du bist. Ich wußte, daß du nicht zu uns gehörst, aber du sahst aus wie einer von uns. Ich sah dich – ich bin ein Alton, und ich habe eine jener eigenartigen, überzeitlichen Empfangsfähigkeiten – , und ich sah einen kleinen Jungen, ein Kind, das nie wußte, wer es war oder was es war. Ich war neugierig. Ich wollte, du wärest damals geblieben und hättest mit uns gesprochen, als ich dich darum bat.“
„Ja, das wäre besser gewesen“, gab Kerwin langsam zu. „Ein Kind, das nie wußte, wer oder was es war… Nun, irgendwie bin ich aufgewachsen… Aber ich habe mein Selbst irgendwo gelassen…“
„Vielleicht findest du es hier.“ Kennard stand auf, Kerwin auch. Er bemerkte, daß Kennard es peinlichst vermied, ihn zu berühren. Kennard lächelte.
„Du wunderst dich darüber?“
„Nein. Ich mag es nicht, wenn ich ins Gedränge komme. Mit den meisten Menschen komme ich nicht besonders gut zurecht.“
„Telepathie, Wahrnehmungen des Grenzbewußtseins und Einfühlungsvermögen, nehme ich an“, erklärte Kennard. „Du nimmst so viel auf, daß dir jeder physische Kontakt unangenehm erscheint.“
„Nicht jeder“, lachte Kerwin.
Spöttisch belustigt hob Kennard die Brauen. „Unangenehm, mit einer Ausnahme: der gewollten Geste von Zuneigung. Stimmts?“ Kerwin nickte und dachte an die wenigen Begegnungen dieser Art in seinem Leben.
„Wie alt bist du eigentlich? Sechs- oder siebenundzwanzig Jahre? Eine lange Zeit, wenn man so lange außerhalb des eigenen Elements leben muß.“
„Genau gesagt, die Hölle“, erwiderte Kerwin. „Zeig mir bitte, wie ich in diese
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