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Die blutige Sonne

Die blutige Sonne

Titel: Die blutige Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Zimmer Bradley
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völlig anders. Das war überhaupt kein Glas, Glas war amorph. Der Kelch aber war ein Kristall, und in ihm erkannte er Spannungen und Bewegungen. Kerwin spürte das Pulsieren der Matrix in seiner Hand, einen emotionalen Druck, ein Gleichgewicht … Die Kristalle liegen in einer Ebene , dachte er, die Ebene plötzlich erkennend, und indem dieser Gedanke auftauchte, hörte er ein schwaches Knacken. Die neue Art des Sehens verschwand. Ungläubig blickte er auf den Kelch nieder, der in zwei Hälften, wie mit einem scharfen Messer gespalten, auf den Kissen vor ihm lag. Surrealistisch , dachte er. Ein paar Tropfen hellen Kirians versickerten in den Kissen. Er schloß die Augen. Als er sie wieder öffnete, waren die Scherben immer noch da.
    Kennard nickte befriedigt. »Nicht schlecht für einen ersten Versuch. Nicht ganz gleichmäßig, aber recht gut. Dein Wahrnehmungsvermögen auf molekularer Ebene wird sich mit der Praxis schärfen. Zandrus Höllen – hast du aber starke Barrieren! Kopfschmerzen?«
    Kerwin wollte schon verneinend den Kopf schütteln, als er merkte, daß er die Frage mit ja beantworten mußte. Vorsichtig berührte er seine Schläfen. Elorie sah ihn mit ihren grauen Augen kurz an, kühl und distanziert.
    »Mentale Verteidigung«, bemerkte sie, »gegen unerträglichen Druck. Typische psychosomatische Reaktion. Du sagst zu dir selbst: Wenn ich Schmerzen habe, werden sie aufhören, mir weh zu tun und mich in Frieden lassen . Und Kennard hat Skrupel, anderen Menschen weh zu tun. Er hörte auf, um dich nicht noch mehr zu verletzen. Schmerz ist die beste Verteidigung gegen das Eindringen in deine Gedanken. Wenn zum Beispiel jemand versucht, deine Gedanken zu lesen, und du hast keinen Dämpfer, ist die beste Verteidigung, dir einfach auf die Lippe zu beißen, bis sie blutet. Nur ganz wenige Telepathen dringen dann trotzdem noch durch. Ich könnte dir eine technische Erklärung über sympathetische Schwingungen und Nervenzellen geben, aber warum soll ich mir die Mühe machen? Das überlasse ich den Technikern.« Sie trat an das Schränkchen, wo die Getränke aufbewahrt wurden, schüttelte drei flache grüne Tabletten aus einer Phiole und ließ sie ihm geschickt, ohne ihn zu berühren, in die Hand fallen.
    »Nimm sie. In einer oder zwei Stunden wird es besser sein. Wenn du erst mehr Übung hast, wirst du sie nicht mehr brauchen, weil du dann die Kanäle direkt kontrollieren kannst, aber in der Zwischenzeit …«
    Gehorsam schluckte Kerwin die Tabletten, und dann sah er wieder ungläubig auf den Kelch, der in zwei sauberen Hälften dalag. »Habe ich das wirklich gemacht?«
    »Nun, es war keiner von uns«, stellte Rannirl trocken fest. »Und du wirst dir vorstellen können, wie unwahrscheinlich es ist, daß alle Moleküle entlang einer bestimmten Linie ihre Spannung durch Zufall verlieren. Eine Wahrscheinlichkeit von eins zu hundert Trillionen wäre noch zu hoch gegriffen.«
    Kerwin nahm die beiden Hälften auf und fuhr mit der Fingerspitze an der scharfen Kante entlang. Er suchte nach einer Erklärung, die die terranische Hälfte seines Verstandes befriedigen würde, und spielte mit Ausdrücken wie unterbewußte Wahrnehmung der Atomstruktur herum. Verdammt, vor einer Minute hatte er gesehen , wie die Kristalle durch ein Muster lebendiger Spannungen und Kräfte zusammengehalten wurden! Während seiner Ausbildung hatte er gelernt, daß Atome Gebilde aus wirbelnden Teilchen sind, daß jedes feste Objekt aus leerem Raum besteht, den infinitesimale Kräfte in Stasis besetzen. Ihm schwirrte der Kopf.
    »Du wirst es lernen«, redete Rannirl ihm zu. »Falls nicht, kannst du es immer noch so machen wie Tani, die es sich als Magie vorstellt. Konzentriere dich, winke mit der Hand, und – Simsalabim! – hat du es geschafft. Alles durch Magie!«
    »Auf die Art ist es leichter«, protestierte Taniquel. »Es funktioniert , auch wenn ich die Kräfte der molekularen Vorgänge nicht genau berechnet habe …«
    »Das heißt, den Leuten in die Hände spielen, denen abergläubische Vorstellungen über uns Vergnügen machen!« fiel Elorie ärgerlich ein. »Ich glaube, dir gefällt es, wenn sie dich Zauberin und Hexe nennen …«
    »Das tun sie sowieso, ganz gleich, wie ich mich selbst nenne«, erklärte Taniquel seelenruhig. »Sie haben es von Mesyr gesagt, und sie gehörte zu ihrer Zeit zu den Spitzentechnikerinnen. Kommt es denn darauf an, was sie denken, Lori? Wir wissen, was wir sind. Wie heißt doch gleich das Sprichwort, das

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