Die blutige Sonne
wurde, kam Taniquel ohne Aufforderung in sein Zimmer und vollführte den gleichen Trick wie am ersten Abend. Sie berührte seine Schläfen mit leichten Fingern und zog den Schmerz weg, als habe sie ein Ventil geöffnet. Sie tat es nicht gern, das wußte Kerwin; es erschöpfte sie, und es ängstigte und beschämte Kerwin, sie danach so grau und ausgehöhlt zu sehen. Und Neyrissa wurde wütend darüber.
»Er muß lernen, es selbst zu tun, Tani. Und jetzt sieh dich an«, schalt sie, »du hast dich völlig verausgabt!«
Taniquel antwortete schwach: »Ich kann seinen Schmerz nicht ertragen. Und da ich ihn sowieso fühlen muß, kann ich ihm ebensogut helfen.«
»Dann lerne, dich abzuschirmen«, mahnte Neyrissa. »Eine Überwacherin darf sich nie so tief hineinziehen lassen. Wenn du so weitermachst, Tani, dann weißt du genau, was passieren wird!«
Taniquel sah sie mit schelmischem Lächeln an. »Bist du eifersüchtig, Neyrissa?« Aber die ältere Frau warf nur einen ärgerlichen Blick auf Kerwin und verließ das Zimmer.
»Um was ging das alles, Tani?« erkundigte sich Kerwin, aber Taniquel antwortete nicht. Kerwin fragte sich, ob er die Verständigung innerhalb einer telepathischen Gesellschaft, all die kleinen wortlosen Andeutungen und Höflichkeiten, je verstehen würde.
Und doch hatte seine Anspannung nachgelassen. So fremd ihm der Arilinn-Turm war, er war doch kein Zauberschloß aus dem Märchen, sondern nur ein großes Steingebäude, in dem Menschen lebten. Die gleitenden, schweigenden, nichtmenschlichen Diener bereiteten ihm immer noch ein wenig Unbehagen. Er brauchte sich jedoch nicht viel mit ihnen abzugeben, und er gewöhnte sich an ihre stumme Art und lernte, sie zu ignorieren, wie auch die anderen es taten, solange er nichts von ihnen wollte. Kerwin freute sich richtig über einen Beweis, daß der Turm kein Zauberschloß war: Er entdeckte direkt über seinem Zimmer ein Loch im Dach, und da kein Handwerker durch den Schleier kommen konnte, mußten er und Rannirl auf das beängstigend schräge Dach hinaufklettern und den Schaden selbst reparieren. Irgendwie machte dieser prosaische Vorfall den Turm für ihn wirklicher, weniger traumhaft.
Er begann, die Sprache zu lernen, die sie unter sich sprachen; Casta nannten sie sie. Zwar konnte er die anderen auf telepathischem Weg verstehen, aber er wußte, früher oder später würde er mit den hier ansässigen Nichttelepathen reden müssen. Er las Bücher über die Geschichte Darkovers, vom darkovanischen, nicht vom terranischen Gesichtspunkt aus geschrieben. Viel Material gab es nicht, aber Kennard war so etwas wie ein Gelehrter und besaß eine ausführliche Beschreibung der Zeit der Hundert Königreiche – eine Epoche, die Jeff noch etwas komplizierter als das Europa des Mittelalters vorkam – und eine andere der Hastur-Kriege. Sie hatten gegen Ende des Zeitalters des Chaos stattgefunden und den Großteil des Landes unter den Sieben Domänen und dem Comyn -Rat vereinigt. Kennard machte ihn darauf aufmerksam, daß korrekte Geschichtsschreibung ganz und gar unbekannt sei. In den Büchern waren altüberlieferte Legenden, Balladen und Geschichten zusammengetragen, denn beinahe tausend Jahre lang hatte man das Schreiben ausschließlich den Brüdern von Sankt Valentin im Kloster Nevarsin überlassen, und die Literatur war vollständig verlorengegangen. Doch konnte Jeff aus all dem entnehmen, daß Darkover eine hochentwickelte Matrix-Technologie besessen hatte. Deren Mißbrauch hatte die Sieben Domänen in chaotische Anarchie gestürzt, und dann hatten die Hasturs das System der von Bewahrerinnen geleiteten Türme begründet. Die Bewahrerinnen mußten in Keuschheit leben, um dynastische Streitigkeiten zu vermeiden, und waren durch Eide und strenge moralische Prinzipien gebunden.
Langsam verlor Jeff das Gefühl für die Zeit. Doch glaubte er, drei- oder viermal zehn Tage in Arilinn gewesen zu sein, als Neyrissa am Ende einer Übungsstunde zu seiner Überraschung sagte: »Ich glaube, du könntest jetzt ohne allzu große Schwierigkeiten als Überwacher in einem Kreis arbeiten. Ich werde dir das Zeugnis ausstellen und dir den Eid abnehmen, wenn du ihn mir ablegen willst.«
Jeff sah sie erstaunt und bestürzt an. Sie mißverstand seinen Blick und sagte: »Wenn du den Eid lieber vor Elorie ablegen willst, steht dies Recht dir gesetzlich zu, aber ich versichere dir, in der Praxis nehmen wir den Hüterinnen diese Dinge ab. Ich bin voll qualifiziert, dich zu
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