Die blutige Sonne
vereidigen.«
Kerwin schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht recht, ob ich überhaupt irgendeinen Eid schwören will. Davon hat man mir nichts gesagt – und ich verstehe das Ganze nicht!«
»Aber du kannst ohne den Überwacher-Eid nicht in einem Kreis arbeiten«, erwiderte Neyrissa mit leichtem Stirnrunzeln. »Niemand, der in Arilinn ausgebildet worden ist, würde auch nur daran denken. Auch wäre niemand aus einem anderen Turm bereit, mit dir, solange du unvereidigt bist, zusammenzuarbeiten. Warum willst du denn den Eid nicht ablegen?« In ihrem Gesicht keimte von neuem der Verdacht auf, der bei allen – außer Auster – verschwunden war. »Hast du vor, uns zu verraten?«
Es dauerte eine oder zwei Minuten, bis Kerwin klar wurde, daß sie den letzten Satz nicht laut ausgesprochen hatte.
Sie war, sagte er sich, alt genug, seine Mutter zu sein, und plötzlich hätte er gern gewußt, ob sie Cleindori gekannt habe, aber er traute sich nicht zu fragen. Cleindori hatte Arilinn verraten . Und Kerwin erkannte, ihr Sohn würde niemals frei von diesem Mal werden, wenn er sich das nicht verdiente.
Langsam erklärte er: »Man hat mir nichts davon gesagt, daß ich Eide schwören müßte. Das ist kein allgemeiner terranischer Brauch. Ich weiß nicht, um was es sich dabei handelt.« Impulsiv setzte er hinzu: »Würdest du einen Eid schwören, ohne zu wissen, zu was er dich verpflichtet?«
Verdacht und Zorn wichen aus ihrem Gesicht. »Das hatte ich nicht bedacht, Kerwin. Der Überwacher-Eid wird schon den Kindern abgenommen, die hier getestet werden. Später magst du andere Eide leisten müssen, aber dieser erste verpflichtet dich nur, die fundamentalen Grundsätze einzuhalten: Deinen Sternenstein niemals zu benutzen, um Einfluß auf den Willen oder das Bewußtsein irgendeines lebenden Wesens zu nehmen, deine Kräfte nur zum Helfen und Heilen einzusetzen und niemals Krieg zu führen. Der Eid ist sehr alt; er geht auf die Tage vor dem Zeitalter des Chaos zurück, und manche sagen, er sei von dem ersten Hastur festgelegt worden, als er seinem ersten Friedensmann eine Matrix gab. Das ist natürlich eine Legende. Wir wissen aber bestimmt, daß der Eid in dieser Form seit Varzil dem Guten und vielleicht noch früher in Arilinn gebräuchlich ist. Gewiß könnte nichts an dem Überwacher-Eid das Gewissen Hasturs selbst belasten, ganz zu schweigen von einem Terranan! «
Kerwin dachte darüber nach. Es war lange her, daß irgendwer ihn so genannt hatte, niemals mehr seit seinem ersten Abend hier. Schließlich zuckte er die Schultern. Was hatte er zu verlieren? Früher oder später mußte er sich doch von seinen terranischen Vorstellungen lösen und die darkovanischen Prinzipien und Moralbegriffe übernehmen. Also warum nicht gleich? Er sagte: »Ich werde den Eid leisten.«
Als er die archaischen Worte wiederholte – Ich werde niemals Einfluß auf den Willen und das Bewußtsein eines lebenden Wesens nehmen, ich werde mich ungefragt nie mit Geist und Körper eines lebenden Wesens befassen, es sei denn, um zu helfen und zu heilen, ich werde die Kräfte des Sternensteins niemals benutzen, um auf Geist oder Gewissen Zwang auszuüben –, dachte er beinahe zum ersten Mal an die wahrlich furchterregenden Kräfte, die eine Matrix in den Händen einer fähigen Person besaß. Es war möglich, die Gedanken anderer Menschen in eine bestimmte Richtung zu lenken, ihren Herzschlag zu verlangsamen oder zu beschleunigen, den Blutkreislauf zu kontrollieren, dem Gehirn Sauerstoff zu entziehen … eine schreckliche Verantwortung. Kerwin sagte sich, daß der Überwacher-Eid mit dem Hippokratischen Eid der terranischen Mediziner zu vergleichen sei.
Neyrissa hatte darauf bestanden, daß der Eid im Rapport abgelegt werde. Das sei der Brauch, sagte sie, und Kerwin hatte den Verdacht, der Grund sei, in der Art eines Lügendetektors einen etwaigen geistigen Vorbehalt zu erkennen. Zwischen Telepathen war das so normal, daß er darin keinen Mangel an Vertrauen sehen wollte. Während er die Worte sprach – jetzt verstand er, warum sie von ihm verlangt wurden, und er meinte sie vollkommen aufrichtig –, war er sich Neyrissas Nähe bewußt. Es fühlte sich an, als seien sie körperlich sehr eng zusammen, obwohl die Frau tatsächlich am anderen Ende des Raums saß. Sie hielt den Kopf gesenkt und richtete die Augen auf ihre Matrix; sie sah ihn nicht einmal an. Sobald Kerwin zu Ende gekommen war, stand Neyrissa schnell auf. »Ich bin es leid, im Zimmer
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