Die Blutlinie
die Gegenwart sind miteinander verschmolzen, sind eins geworden. Ich schlafe in meinem Schlafzimmer. Plötzlich höre ich ein Geräusch. Ein sägendes und zugleich patschendes Geräusch. Ich stehe auf. Mein Herz hämmert, und ich packe meine Pistole auf dem Nachttisch.
Ich tappe durch die Tür, die Waffe schussbereit, mit zitternder Hand beim Gedanken daran, dass jemand in mein Haus eingedrungen ist.
Die Geräusche kommen aus dem Wohnzimmer. Inzwischen mischt sich Kichern in das leise Patschen.
Als ich es betrete, ist er da. Ich kann sein Gesicht nicht sehen, denn es ist verdeckt von Bandagen um seinen Kopf. Seine Lippen sind sichtbar, sie sind riesig, aufgequollen, rot. Seine schwarzen Augen sind tot und ausdruckslos.
»Siehst du das?«, flüstert er zischend wie eine Schlange.
Ich kann nicht sehen, worauf er deutet. Die Rückseite des Sofas verbirgt es vor meinem Blick. Eine Gewissheit steigt in mir auf, dass ich es nicht sehen will.
Doch ich muss.
Ich bewege mich vorwärts, vorwärts, vorwärts.
»Siehst du es?«, flüstert er erneut.
Und nun sehe ich es.
Sie liegt auf dem Sofa. Er hat sie aufgeschnitten, vom Brustbein bis zum Unterleib, ihre Organe freigelegt. Friedhofserde klebt an ihren Haaren. Und ein von Erde und Schmutz verkrusteter Finger zeigt auf mich.
»Deine Schuld!«, krächzt sie.
Sie ist Alexa, dann ist sie Charlotte Ross, dann Annie.
»Warum hast du zugelassen, dass er mich tötet?«, fragt mich Annies Gesicht, während sie anklagend auf mich zeigt. »Warum?«
Der Mann mit dem bandagierten Gesicht kichert erneut. »Siehst du es?«, fragt er. »Siehst du ihre schmutzigen Finger? Sie zeigen auf dich, bis in alle Ewigkeit.«
»Warum?«, fragt Annie.
»Siehst du es?«, kichert er.
Ich schrecke aus dem Schlaf hoch, bin sofort hellwach. Die Kabine des Jets liegt im Halbdunkel. Alles ist still. James und Alan dösen.
Ich blicke aus dem Fenster hinaus in die kalte Nacht und erschauere. Schmutzige Finger. Ich muss nicht erst nach der Bedeutung des Symbols suchen.
Ich spüre sie ständig, wie sie aus dem Grab auf mich zeigen. Die Finger all derer, die ich nicht retten konnte.
Ich habe Jenny Chang vom Flugzeug aus angerufen, und sie erwartet uns.
»Betrachte mich nicht länger als deine Freundin«, sagt sie und deutet auf ihre Uhr. Es ist noch mitten in der Nacht.
»Tut mir Leid, Jenny, aber die Dinge kochen ziemlich hoch.«
Ich berichte ihr, was Callie passiert ist, und sie presst die Lippen zu einem schmalen, wütenden Strich zusammen.
»Noch keine Neuigkeiten über ihren Zustand?«, fragt sie.
»Nein«, antwortet James an meiner Stelle.
»Mein Gott …«, flüstert sie, starrt in die Ferne.
Ich halte meinen Aktenkoffer hoch. »Aber wir haben einen Treffer im VICAP gelandet. Höchstwahrscheinlich ist es unser Mann.«
Der Detective in Jenny rührt sich, hellwach und interessiert. »Erzähl mehr.«
Ich berichte in knappen Worten.
»Vor fünfundzwanzig Jahren also. Ich bin mit zweiundzwanzig zur Polizei gegangen. Also war es vor meiner Zeit. Wer war damals der verantwortliche Beamte für den Fall?«
»Detective Rawlings«, sagt Alan.
Jenny ist plötzlich stocksteif. Blickt Alan an. »Rawlings? Sind Sie sicher?«
»Ja, absolut sicher. Warum?«
Sie schüttelt den Kopf. »Weil die Dinge jetzt vielleicht tatsächlich ins Rollen kommen. Rawlings ist ein erstklassiges Arschloch. War er schon immer nach allem, was ich höre. Er säuft und sitzt seine Zeit ab bis zur Pensionierung.«
»Und wieso ist das gut für uns?«, frage ich.
»Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass er damals etwas Wichtiges übersehen hat. Etwas, das euch niemals entgangen wäre.«
In ihrem Büro im SFPD angekommen, trommelt Jenny mit einem Stift auf den Schreibtisch, während sie darauf wartet, dass jemand am anderen Ende der Leitung abnimmt. »Rawlings? Ich bin es, Jenny Chang. Ja, ich weiß, wie spät es ist.« Sie runzelt die Stirn. »Es ist nicht meine Schuld, dass Sie betrunken sind.«
Ich sehe sie flehend an. Ich brauche den Burschen jetzt, brauche ihn hier, und ich will nicht, dass er einfach auflegt. Sie schließt die Augen. Ich habe das Gefühl, als würde sie innerlich bis zehn zählen.
»Hören Sie, Don, es tut mir Leid. Ich bin ebenfalls aus dem Bett gerissen worden. Das hat mir die Laune verdorben. Die Leiterin des CASMIRC Los Angeles ist hier, wegen eines alten Falles von Ihnen. Eine gewisse …«, sie wirft einen Blick auf den Notizblock, der vor ihr auf dem Schreibtisch liegt, »…
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