Die Blutlinie
sich um Leute, deren Leben er verändert hatte. Wie sich herausstellte, hat er überall ehrenamtlich mitgearbeitet. In Krankenhäusern, in Drogencentern, als Krisenberater. Dieser junge Bursche war ein Heiliger. Er war einer von den Guten. Und der einzige Grund für seinen Tod bestand darin, dass er schwul war.« Rawlings ballt eine Faust. »Das war falsch. Ich konnte nicht Teil davon sein. Nie wieder.«
Er winkt ab. »Wie dem auch sei … da war ich nun. Neu bei der Mordkommission und ein neuer Mensch. Ich dachte nicht länger in Begriffen wie ›Schwuchtel‹ oder ›Nigger‹. Ich hatte mich geändert. Ich ging in meinem Beruf auf, und das Leben war gut.
Und jetzt springen wir fünf Jahre weiter. Ich hatte meine beste Zeit seit drei Jahren hinter mir, und es ging rasch bergab. Ich hatte angefangen zu trinken, und ich spielte meiner Frau übel mit. Ich dachte oft daran, mir die Kanone in den Mund zu stecken. Alles nur wegen dieser verdammten toten Babys.« Seine Augen blicken gehetzt, auf eine Weise gehetzt, die ich wiedererkenne. Ich habe den gleichen Ausdruck im Spiegel gesehen. »Irgendjemand brachte Babys um. Ich rede von Kleinkindern und Säuglingen. Er stahl sie, strangulierte sie und warf sie hinterher auf die Straße oder den Bürgersteig. Sechs Stück und kein Tatverdächtiger – das genügte, und ich starb innerlich.« Er sieht mich an. »Sie kennen dieses Gefühl sicherlich bei dem, was Sie tun.«
Ich nicke.
»Stellen Sie sich vor, dass Sie sechs Babys haben sterben lassen. Dass Sie nicht nur den Kerl nicht geschnappt haben, der so etwas macht – Sie haben nicht einmal einen Verdächtigen. Nichts. Ich war völlig fertig.«
Noch vor einem Jahr hätte ich jemandem wie Don Rawlings gegenüber ein verächtliches Schnauben unterdrücken müssen. Ich hätte ihn als Schwächling betrachtet. Als jemanden, der die Vergangenheit für die Gegenwart verantwortlich macht, sie als Ausrede benutzt. Ich kann ihm nicht ganz verzeihen, dass er aufgegeben hat, doch jetzt spüre ich nicht den Drang, verächtlich auf ihn hinabzusehen. Manchmal ist das Gewicht der Verantwortung dieser Tätigkeit einfach zu groß. Im Augenblick empfinde ich jedenfalls nicht Überlegenheit, sondern Mitgefühl.
»Ich kann es mir vorstellen«, sage ich und sehe ihm in die Augen. Ich glaube, er sieht, dass ich es ehrlich meine, und er setzt seine Geschichte fort.
»Ich war auf dem absteigenden Ast, aber das war mir egal. Ich habe alles getan, was ich konnte, um diese toten Babys aus dem Kopf zu kriegen. Alkohol, Sex – einfach alles. Es half nichts, sie kamen immer wieder, tauchten in meinen Träumen auf. Und dann lernte ich Renee Parker kennen.«
Ein ehrliches Lächeln, das einem jüngeren Don Rawlings zu gehören scheint, huscht über sein Gesicht.
»Ich begegnete ihr, als ihr Freund erschossen wurde. Er war ein kleiner Dealer und hatte sich mit dem falschen Kerl angelegt. Sie war eine Stripperin, die gerade angefangen hatte, Karriere zu machen. So was passiert häufig. Man sieht es ständig und lernt irgendwann, schnell damit fertig zu werden. Doch Renee – mit ihr war es etwas anderes. Sie war ein menschliches Wesen. In ihr war Leben unter der Oberfläche.« Er blickt auf. »Ich weiß, was Sie jetzt denken. Polizist, Stripperin, Ende der Geschichte. Aber so war es nicht. Sicher, sie hatte einen großartigen Körper. Doch darum ging es mir bei ihr nicht. Als ich sie sah, dachte ich, dies sei vielleicht meine Chance, endlich etwas Gutes zu tun. Die Sache mit den Babys auszubügeln.
Sie erzählte mir ihre Geschichte. Sie war nach San Francisco gekommen, um als Schauspielerin zu arbeiten, und endete in einer Oben-ohne-Bar, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Sie lernte einen Mistkerl kennen, der ihr irgendwelchen Dreck gab. ›Hier, probier das mal, es macht nicht süchtig.‹ Nichts Neues so weit. Doch ich sah noch etwas in ihr. Verzweiflung in den Augen. Als würde sie immer noch an der Kante der Klippe hängen, als wäre sie noch nicht abgestürzt.
Ich packte sie und brachte sie für den Entzug in ein Drogenzentrum. Wenn ich freihatte, ging ich sie besuchen. Hielt sie, während sie kotzte. Redete mit ihr. Ermutigte sie. Manchmal redeten wir die ganze Nacht. Und wissen Sie was? Sie war meine erste Freundin.« Er blickt mich an. »Wissen Sie, was ich meine? Denken Sie an das normale männliche Stereotyp. Ich war chauvinistisch. Frauen sind zum Heiraten oder zum Ficken da. Verstehen Sie?«
»Ich habe ein paar von dieser
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