Die Blutlinie
Zusammenzucken, er schneidet, er schneidet, gütiger Gott, er hört überhaupt nicht mehr auf zu schneiden. Ihre Augen füllen sich mit Todesqual, ihre Augen füllen sich mit nacktem Entsetzen, und schließlich werden sie leer, ein starrer Blick ins Nichts. Sie lebt noch, doch sie ist nicht länger bei klarem Bewusstsein. Der Mörder ist außer sich, in Hochstimmung. Er führt einen Regentanz auf, und sein Regen ist Blut, Annies Blut. Ich sehe zu, wie meine Freundin stirbt. Sie stirbt langsam und furchtbar und ohne jede Würde. Als er endlich fertig ist, ist sie längst tot, ein ausgeweideter Fisch. Zuzusehen wie sie stirbt, diese Frau, die ich als Teenager in den Armen gehalten habe, diese Frau, mit der ich zusammen aufgewachsen bin, die ich geliebt habe – das ist, als wäre ich zurück in jenem Bett und müsste zusehen, wie Matt schreit.
Ich habe nicht richtig um Annie geweint, seit sie gestorben ist. Ich merke, dass ich jetzt weine. Dass ich schon die ganze Zeit über geweint habe.
Es sind lautlose Tränen, Ströme, die mir über die Wangen rinnen. Ströme, die den Tod des einzigen Menschen außer Matt betrauern, der mich voll und ganz kannte. Jetzt bin ich allein auf der Welt. Ich habe keine Wurzeln mehr, und es ist unerträglich.
Ich wische meine Tränen nicht ab. Ich schäme mich ihrer nicht. Sie haben ihre Berechtigung.
Die Videoaufzeichnung endet, und rings um mich herum herrscht betroffene Stille.
»Spielen Sie es noch mal ab«, sage ich.
Spielen Sie es noch mal ab, weil in mir ein Drache lauert. Ein Drache, der langsam erwacht.
Ich brauche ihn wach, und ich brauche ihn wütend.
KAPITEL 14
»Also, damit ich das richtig verstehe«, sagt Alan, »er hat dieses Video nicht nur aufgenommen, er hat sich auch noch hingesetzt und es bearbeitet?«
Leo nickt heftig. »So ist es. Allerdings nicht auf diesem Computer. Die Kapazität der Festplatte ist nicht groß genug dazu, und es ist keine Bearbeitungssoftware drauf. Wahrscheinlich hat er ein leistungsstarkes Notebook mitgebracht.«
Alan stößt einen Pfiff aus. »Der Kerl ist eiskalt, Smoky. Er hat sich hingesetzt und den Film bearbeitet, während deine Freundin tot auf ihrem Bett lag und Bonnie zugesehen hat. Oder noch Schlimmeres.«
Niemand hat ein Wort über meine Tränen verloren. Ich fühle mich leer, doch ich bin nicht länger wie betäubt. Ich reagiere.
»Kalt, organisiert, kompetent, technisch beschlagen … und er ist definitiv ein echter.«
»Was bedeutet das?«, fragt Leo.
Ich wende mich ihm zu. »Er hat eine Grenze überschritten, als Person, und er wird nie wieder zurückkehren. Er hat genossen, was er getan hat. Er hat sich richtig lebendig gefühlt. Etwas, das man so sehr genießt, macht man nicht nur ein einziges Mal. Er ist ein echter Serienmörder.«
Erschrocken über meine Worte, sieht er mich an. »Und was machen wir jetzt?«
»Ihr verschwindet jetzt alle von hier, und stattdessen soll James kommen.«
Ich höre meine Stimme, während ich dies sage, bemerke die Kälte darin. So, so, denke ich. Es hat angefangen. Es ist immer noch da. Was sagt man dazu?
Charlie und Leo sehen verwirrt aus, doch Alan hat begriffen. Er lächelt, allerdings kein wirklich glückliches Lächeln. »Smoky und James brauchen Bewegungsfreiheit hier drin, das ist alles. Wir haben sowieso reichlich zu tun bis dahin. Soll ich für James in der Gerichtsmedizin weitermachen?« Die letzte Frage ist an mich gerichtet.
»M-hm.« Meine Antwort kommt geistesabwesend und von weit her. Ich bemerke kaum, wie die drei gehen. Mein Bewusstsein ist ein riesiger, offener Raum. Mein Blick ist in weite Fernen gerichtet.
Weil der schwarze Zug herannaht. Ich höre ihn bereits: tschua-tschua-tschua-tschu. Rauch quillt aus dem Schornstein, dunkle Hitze und Schatten umhüllen ihn.
Ich bin dem schwarzen Zug, wie ich ihn nenne, während meines allerersten Falles begegnet. Er ist schwierig zu beschreiben. Der Zug des Lebens fährt auf den Gleisen von Normalität und Wirklichkeit. Es ist der Zug, auf dem die meisten Menschen von ihrer Geburt bis zu ihrem Tod fahren. Er ist voll mit Lachen und Tränen, mit Not und Entbehrungen und mit Triumphen. Seine Passagiere sind nicht vollkommen, doch sie geben ihr Bestes.
Der schwarze Zug ist anders. Er fährt auf Gleisen, die aus zerbrechlichen, empfindlichen Dingen gemacht sind. Es ist der Zug, auf dem Typen wie Jack Junior fahren. Ein Zug voller Mord und Sex und Schreie. Eine große, schwarze, bluttrinkende Schlange auf Rädern. Wenn man
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