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Die Blutlinie

Die Blutlinie

Titel: Die Blutlinie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cody Mcfadyn
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vom Zug des Lebens abspringt und durch die Wälder entlang der Strecke streift, kann man den schwarzen Zug finden. Man kann an den Gleisen entlanglaufen, neben dem Zug herrennen, während er vorbeikommt, und einen Blick auf den weinenden Inhalt in den Abteilen erhaschen. Wenn man auf den schwarzen Zug aufspringt und sich durch die Leichenwagen nach vorn arbeitet, trifft man schließlich auf den Zugführer. Er ist das Monster, das man jagt, und er taucht in vielerlei Gestalt auf. Er kann klein und kahlköpfig und vierzig sein. Oder groß und blond und jung. Manchmal – selten – ist es auch eine Sie. An Bord des schwarzen Zugs sieht man den Zugführer so, wie er wirklich ist, hinter seinem falschen Lächeln und dem dreiteiligen Anzug. Du starrst in die Dunkelheit, und in diesem Moment, wenn du hinsiehst, ohne zu blinzeln, verstehst du.
    Die Mörder, die ich jage, sind innerlich nicht ruhig und gelassen, und sie lächeln nicht. Jede Zelle in ihrem Körper ist ein nicht enden wollender, ewiger Schrei. Diese Mörder schnattern und plappern und haben weit aufgerissene Augen und sind böse und blutbesudelt. Es sind Kreaturen, die masturbieren, während sie menschliches Fleisch herunterschlingen, die ekstatisch stöhnen, wenn sie sich mit Fäkalien und Gehirnmasse einschmieren. Ihre Seelen bewegen sich nicht normal. Sie schlittern, zucken, kriechen.
    Der schwarze Zug ist schlicht der Ort, an dem ich dem Mörder in meiner Vorstellung die Maske herunterreiße. An dem ich hinsehe, ohne den Blick abzuwenden. Der Ort, an dem ich nicht zurückweiche, keine Entschuldigungen vorbringe und nicht nach Gründen suche, sondern einfach nur akzeptiere. Ja, seine Augen sind voller Maden. Ja, er trinkt die Tränen ermordeter Kinder. Ja, es gibt nur Mord in diesem Zug.
    »Interessant«, bemerkte Dr. Hillstead während einer unserer vorangegangenen Sitzungen, nachdem ich ihm den schwarzen Zug erklärt hatte. »Ich schätze, meine Frage – und meine Sorge, Smoky – ist folgende: Wenn Sie auf den schwarzen Zug aufgesprungen sind, was hält Sie davon ab, ihn nie wieder zu verlassen? Was hindert Sie daran, selbst zum Zugführer zu werden?«
    Ich musste lächeln. »Wenn Sie ihn sehen – wirklich sehen –, dann besteht diese Gefahr nicht. Sie erkennen, dass Sie nicht so sind. Nicht einmal so ähnlich.« Ich drehte den Kopf und starrte ihm in die Augen. »Wenn Sie den Zugführer wirklich demaskieren, dann erkennen Sie, dass er ein Alien ist. Er ist eine Anomalie, ein Angehöriger einer anderen Spezies.«
    Er nickte und lächelte. Seine Augen wirkten nicht überzeugt.
    Was ich ihm nicht erzählt habe: Das Problem besteht nicht darin, nicht zum Zugführer zu werden. Das Problem besteht darin aufzuhören, ihn zu sehen, in seinem unmaskierten, unverstellten Zustand. Das kann manchmal Monate dauern, Monate der Alpträume und des kalten Schweißes in der Morgendämmerung. Was für Matt immer am schwersten zu ertragen war, das war mein Schweigen. Ein verschlossener, abgesperrter Raum, in dem er mich nicht erreichen konnte.
    Das ist der Preis, den man dafür zahlt, auf dem schwarzen Zug mitzufahren. Ein Teil von dir wird so einsam, wie es gewöhnliche Menschen niemals sind, und niemand kann zu dir in diese Einsamkeit. Ein kleines Stück von dir wird einsam, unendlich einsam, bis ans Ende deines Lebens.
    Jetzt, hier, an dem Ort, wo Annie gestorben ist, kann ich spüren, wie er mir entgegenrast. Wenn er da ist, gleichgültig, ob ich nur zusehe, wie er vorbeisaust, oder ob ich aufspringe und durch die Waggons gehe, kann ich andere nicht um mich herum ertragen. Ich werde abweisend und kalt und … unerträglich. Es gibt nur eine Ausnahme: einen Kameraden, jemand, der den Zug ebenfalls versteht.
    James tut das. Welche Fehler er sonst auch haben mag, was für ein Arschloch er auch sein kann, James besitzt die gleiche Gabe. Er kann den Zugführer sehen, kann im Zug mitfahren.
    Wenn man sämtliche Metaphern beiseite lässt, dann ist der schwarze Zug ein Zustand geschärfter Wahrnehmung, erzeugt durch eine Art temporärer Empathie mit dem Bösen.
    Und unangenehm.
    Ich sehe mich im Zimmer um, lasse es auf mich einwirken. Ich kann ihn spüren, kann ihn riechen. Ich muss imstande sein, ihn zu schmecken und zu hören. Statt ihn von mir zu stoßen, muss ich ihn an mich ziehen. Wie eine Liebende den Geliebten.
    Das ist etwas, das ich Dr. Hillstead nie erzählt habe. Ich glaube nicht, dass ich es je tun werde. Dass diese … diese Intimität nicht nur beunruhigend

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