Die Blutlinie
richtigen Worte für etwas zu finden. Auf diese Weise entsteht Klarheit. Denken Sie diesen Gedanken zu Ende.«
»Na ja … Sie wissen, wie das Klima von Küstengebieten durch das Meer bestimmt wird? Durch die Nähe zu ihm? Es mag vielleicht ein paar verrückte Kapriolen geben, doch im Großen und Ganzen ist es ziemlich konstant, weil der Ozean so riesig ist und sich nicht wirklich ändert.« Ich sah ihn an, und er nickte. »Es ist genau so. Sie sind ständig in der Nähe von etwas Riesigem, Dunklem, Grauenvollem. Es verschwindet nie, es ist immer da. Jede Minute jeden Tages.« Ich zuckte die Schultern. »Das Klima der Seele wird, wie gesagt, dadurch beeinflusst. Für immer.«
Seine Augen wirkten traurig. »Was ist das für ein Klima?«, fragte er.
»Es ist sehr regnerisch. Es kann trotzdem wunderschön sein, es gibt auch sonnige Tage, aber es wird dominiert von Düsternis und Wolken. Ständig droht Regen. Die Nähe ist stets spürbar.«
Ich sehe mich in Annies Schlafzimmer um und höre in meinem Kopf ihre Schreie. Es regnet, denke ich, hier und jetzt. Annie war die Sonne, und das Monster die Regenwolke. Und zu was macht mich das? Noch mehr poetischer Scheißdreck. »Zum Mond«, flüstere ich mir selbst zu. Zum Licht in der Finsternis.
»Hallo.«
James’ Stimme lässt mich aus meinen Gedanken aufschrecken. Er steht in der Tür und blickt herein. Ich sehe, wie sein Blick durch das Zimmer wandert, wie er die Blutflecken, das Bett, den umgestürzten Nachttisch in sich aufnimmt. Seine Nüstern blähen sich.
»Was ist das?«, fragt er.
»Parfum. Er hat ein Handtuch mit Parfum getränkt und es unter die Tür gestopft, damit der Gestank von Annies Leiche nicht so schnell nach draußen dringen konnte.«
»Er hat sich Zeit verschafft.«
»Ja.«
James hält einen Aktenordner hoch. »Das hier hab ich von Alan. Berichte von der Spurensicherung und Fotos.«
»Gut. Du musst dir das Video ansehen.«
So beginnt es immer. Wir reden in kurzen, abgehackten Sätzen, wie Maschinengewehrfeuer. Wir werden zu Staffelläufern, die sich den Stab hin und her reichen, hin und her.
»Zeig es mir.«
Also setzen wir uns, und ich sehe mir das Video ein drittes Mal an. Sehe, wie Jack Junior durch das Zimmer tanzt, sehe, wie Annie schreit und einen langsamen, qualvollen Tod stirbt. Diesmal spüre ich es nicht. Ich bin ungerührt – beinahe. Ich bin entrückt und distanziert, während ich den Zug aus verengten Augen mustere. In meinem Kopf entsteht ein Bild von Annie, die tot auf einer Wiese liegt, während der Regen ihren offenen Mund füllt und ihr über die grauen, toten Wangen rinnt.
James ist still. »Warum hat er das für uns dagelassen?«, fragt er schließlich.
Ich zucke die Schultern. »So weit bin ich noch nicht. Lass uns vorn anfangen.«
Er klappt den Aktenordner auf. »Sie haben die Leiche gegen sieben Uhr gestern Abend entdeckt. Die Todeszeit lässt sich nur ungefähr angeben, doch angesichts des Verwesungsgrades, der Umgebungstemperatur und so weiter schätzt der Pathologe, dass sie zum Zeitpunkt ihrer Entdeckung seit drei Tagen tot war. Sie starb so gegen neun oder zehn Uhr abends.«
Ich denke darüber nach. »Ich schätze, er hat sich mit dem Vergewaltigen und Foltern ein paar Stunden Zeit gelassen. Das bedeutet, dass er spätestens gegen sieben Uhr abends hier eingetroffen ist. Also ist er nicht gekommen, während sie schliefen. Wie ist er reingekommen?«
James schlägt in der Akte nach. »Kein Zeichen von gewaltsamem Zutritt. Entweder hat sie ihn reingelassen, oder er ist so reingekommen.« Er runzelt die Stirn. »Ein dreister Pisser. Er hat es am frühen Abend getan, als alle zu Hause und noch wach waren. Verdammt selbstsicher.«
»Aber wie ist er reingekommen?« Wir sehen uns an und überlegen.
Geh weg, Regen. Geh weg.
»Fangen wir im Wohnzimmer an«, schlägt James vor.
Maschinengewehrfeuer, ratatatatat.
Wir verlassen das Schlafzimmer und gehen durch den Flur bis zur Wohnungstür. James blickt sich um. Ich sehe seinen Blick schweifen, dann bleibt er auf etwas haften. »Warte mal.« Er kehrt in Annies Schlafzimmer zurück und kommt mit dem Aktenordner wieder. Er reicht mir ein Foto.
»So hat er es gemacht.«
Es ist eine Serie von Aufnahmen des Flurs, vom Bereich direkt hinter der Wohnungstür. Ich sehe, was er mir zeigen will: drei Umschläge liegen auf dem Fußboden. Ich nicke. »Es war nichts Kompliziertes. Er hat einfach geklopft. Sie öffnet, er stürzt herein, sie lässt die Post fallen, die sie in
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