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Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Blutnacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Willocks
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Flore. »Papa hat uns heute Morgen gezeigt, wie man sie schussbereit macht. Sie sind geladen, schussbereit und gespannt.«
    »Darf ich die Verantwortung für die Pistolen übernehmen?«
    »Nicht für diese hier«, erwiderte Pascale.
    »Ich verstehe«, begann Tannhäuser.
    »Nein, Ihr versteht nicht«, sagte Pascale.
    »Ich beabsichtige, mit euch über die Dächer zu gehen«, erklärte Tannhäuser. »Das geht mit gespannten Pistolen nicht. Wenn ihr, wie ich, viele Männer gesehen hättet, die aus Versehen erschossen wurden, wärt ihr nicht beleidigt.«
    »Ich bin nicht beleidigt«, antwortete Pascale. »Und ich schieße nicht aus Versehen.«
    Sie stand auf und richtete die Mündung der Pistole auf Jeans Brust.
    Tannhäuser trat weit aus dem Schussfeld.
    »Pascale, schieß nicht«, sagte er. »Lass mich erklären.«
    Pascale hielt inne, zielte weiter. Jean zitterte.
    »Wir sind hergekommen, um euch zu retten, Pascale«, beteuerte Jean. »Wir haben euch gerettet.«
    Ehe Jean sie dazu überreden konnte, ihn nicht zu erschießen, schlug ihm Tannhäuser mit dem Griff des Metzgermessers die Zähne ein. Jean fiel zu Boden und schaute mit glasigen Augen zu Tannhäuser auf.
    »Ich habe dir gesagt, du sollst den Mund halten.«
    Tannhäuser und Pascale schauten einander an.
    »Pascale, wir sind in einer furchtbaren Klemme, und wir haben noch einen langen Weg vor uns, ehe wir da raus sind.«
    »Ihr meint, wir können da raus?«, fragte Flore.
    »Ich bin nicht zum Sterben hergekommen. Wie ihr herausgefunden habt, sind diese Pistolen nützlich, besonders wenn die Narren da unten auf der Straße nicht wissen, dass wir sie haben.«
    Pascales Augen waren zwei dunkle Seen, aus denen Schmerz sprach.
    »Sagt Ihr mir, ich soll ihn nicht töten?«
    »Ich bitte dich, ihn nicht zu erschießen. Wir wären für den Rest des Tages taub. Wenn du ihn umbringen willst, dann ist kalter Stahl viel verlässlicher. Aber das Töten ist eine Brücke, über die man nur in eine Richtung gehen kann. Von der anderen Seite gibt es keinen Weg zurück, nicht nur in diesem Leben, sondern in alle Ewigkeit. Ich rate dir, dir keinen Mord auf die Seele zu laden. Das würdest du höchstwahrscheinlich bereuen.«
    »Ich betrachte es nicht als Mord. Ich glaube nicht, dass ich es bereuen werde.«
    »Hör auf ihn, Pascale«, beschwor Flore sie. »Ich glaube, Papa würde dasselbe sagen.«
    »Vater ist tot.« Sie schaute Tannhäuser unverwandt an. »Er ist doch tot, nicht wahr? Das haben wir doch den ganzen Morgen gerochen. Unseren brennenden Vater?«
    »Ja, er ist tot. Auf einem Scheiterhaufen aus Büchern verbrannt, die er gedruckt hat.«
    Er hörte, wie Flore einen Aufschrei unterdrückte. Pascale zuckte nicht mit der Wimper.
    »Aber ich habe ›höchstwahrscheinlich‹ gesagt. Ich kenne dich nicht. Vielleicht ist es dir bestimmt, eine Mörderin zu sein, ob du es später bereust oder nicht. Oder es ist das Schicksal, das du dir aussuchst. Denn du musst dich immer für ein Geschick entscheiden, auch wenn es in deinem Innersten darauf wartet, gefunden zu werden.«
    »Bereut Ihr Eure Wahl?«
    »Ich habe die Brücke vor so langer Zeit überschritten, dass ich mich nicht mehr an die andere Seite erinnern kann.«
    »Ich habe auf Euch gewartet«, sagte Pascale.
    Tannhäuser stutzte. »Auf mich?«
    »Auf Euch. Ihr habt doch gesagt, Ihr würdet kommen.«
    Tannhäuser antwortete nicht.
    Pascales Lippen bebten. Sie presste sie zusammen.
    »Ich habe die ganze Nacht auf Euch gewartet, habe Vater gesagt, Ihr würdet kommen. Und Flore. Und Ihr seid nicht gekommen.«
    »Pascale, sag das nicht«, mahnte Flore. »Er ist gekommen. Er ist jetzt hier.«
    »Dann habe ich den ganzen Morgen auf Euch gewartet. Und dann haben sie Vater mitgenommen. Und ihn auf einem Haufen Bücher verbrannt, die er gedruckt hat.«
    Pascales Augen füllten sich mit Tränen.
    Tannhäuser merkte, wie auch ihm der Blick verschwamm.
    »Er war der beste Mann auf der Welt«, sagte Pascale. »Er konnte singen und tanzen. Er konnte in den alten Zungen sprechen und schreiben. In seinen Gedanken drehte sich das Universum zehntausend Mal am Tag, hat er mir gesagt. Und ich habe ihm geglaubt.«
    »Ich glaube ihm auch«, sagte Tannhäuser.
    »Er war ein besserer Mann als Ihr.«
    »Das bezweifle ich nicht. Er hat dich und Flore großgezogen.«
    Ohne den Blick abzuwenden, hob Pascale eine Hand und wischte sich ein Auge nach dem anderen.
    »Tut mir leid«, sagte sie. »Heute ist ein finsterer und blutiger Tag.«
    »Noch finsterer

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