Die Blutnacht: Roman (German Edition)
wissen?«
»Seht Euch als den Einäugigen im Reich der Blinden.«
Frogier warf einen traurigen Blick auf das letzte Feigentörtchen.
»Geneviève, gib ihm das Törtchen«, sagte Tannhäuser.
»Aber wir haben es für dich aufgehoben«, antwortete Flore.
»Frogier braucht es nötiger. Vielleicht lockert es ihm die Zunge.«
Pascale, die zwischen den beiden Männern saß und sich durchaus gleichrangig fühlte, verlor die Geduld und nahm das Törtchen an sich. »Marcel Le Tellier ist der Lieutenant Criminel , der Oberste Gendarm des Châtelet. Er regiert über alle Commissaires und hat die Befugnisse eines Richters.«
»Wie sieht Le Telliers Amtskette aus?«
»Sie besteht aus goldenen Muscheln«, sagte Pascale.
»Der Orden des heiligen Michael«, sagte Tannhäuser.
Traditionell war die Mitgliedschaft auf fünfzig Ritter beschränkt, aber in letzter Zeit hatte Charles Hunderte zu Rittern geschlagen, als Gegengabe für Geld und politische Unterstützung.
Tannhäuser sagte: »Wenn er die Ehre nicht gekauft hat, und das würde wohl sogar die Mittel eines Lieutenant Criminel übersteigen, dann muss er viel Einfluss bei Hof haben.«
Frogier starrte auf das Feigentörtchen, hoffte wohl immer noch, es sich zu verdienen.
»Le Tellier wurde zum Ritter geschlagen, als er noch Commissaire für den siebten Bezirk war, in Les Halles. Diese Ehrung half ihm, seinen Vorgänger zu entthronen, der sich zurückzog, weil ihm verschiedene Anklagen drohten. Marcel ist ein großer Intrigant. Das musste er sein. Er ist nicht der Erste, der vom Rang eines bescheidenen Sergent in dieses hohe Amt aufgestiegen ist, aber an den letzten kann sich niemand erinnern. Sein Vater war ein Prud’homme , ein ehrenwerter Mann, den der königliche Koch dazu angestellthatte, auf dem Markt den Fisch für die Tafel des Königs einzukaufen. Wenn man von Königreichen spricht, dann sind Les Halles Telliers Königreich. Er ist im Schatten des Châtelet geboren, mit einem dreifachen Gestank in der Nase – Fisch, Schlachthöfe und Cimetière des Innocents.«
»Marcel löst also viele Kriminalfälle«, sagte Tannhäuser.
»Nein, nein, nein«, widersprach Frogier, der immer noch auf das letzte Törtchen schielte. »Es ist nicht die Aufgabe des Châtelet, Kriminalfälle zu lösen. Wir sind da, um Geld einzutreiben, für den König und für unsere eigenen jämmerlichen Gehälter. Insgesamt stammt dieses Geld von gesetzestreuen Bürgern. Beinahe alles, was man tun kann – ein Gasthaus betreiben, ein Paar Schuhe verkaufen, ein Fuhrunternehmen mit einem Karren aufmachen –, unterliegt einer Gebühr. Um einen Lachs zu verkaufen, sind vier verschiedene Abgaben zu entrichten. Und es gibt Strafzahlungen, wenn jemand gegen diese Regeln verstößt, die zahlreich und leicht zu übertreten sind. Außerdem überbringen wir Vorladungen, und wir …«
»Und was bekommen die gesetzestreuen Bürger dafür?«
»Im Gegenzug richten wir ungeheuer viele Verbrecher hin, hauptsächlich Diebe, aber auch Gotteslästerer, Sodomiten und Mörder. Um ein Verbrechen aufzuklären, braucht man nur zwei Dinge: einen Angeklagten und sein Geständnis. Und da die Folterknechte im Châtelet die erfahrensten der Welt sind, ist beides nicht schwer zu bekommen.«
»Wir warten immer noch auf nützliche Information«, sagte Pascale.
Das war zu viel für Frogier. Tannhäuser sah, dass sich seine Augen verengten. Er besänftigte den Sergent , indem er Pascale das Feigentörtchen abnahm und es zu Frogier schob. Der stopfte es sich in den Mund, als fürchtete er, man könnte es ihm wieder wegnehmen.
Pascale funkelte ihn an. »Marcel tat Dienst in einem Quartier , in dem die meisten Lebensmittel verkauft und gekauft werden, die Paris ernähren. Durch dieses Viertel fließt mehr Geld als durch das Schatzamt. Er hat ein Vermögen für seine Herren herausgepresst und ist die Karriereleiter hinaufgestiegen.«
Frogier sprühte Krümel. »Genau das hat er gemacht.«
»Ist er ein gewalttätiger Mann?«, fragte Tannhäuser.
»Das hat er nicht nötig. In Les Halles kann man sich Muskelkraft billiger kaufen als Fischgekröse. Für ein solches Feigentörtchen würde jemand einem anderen ein Bein brechen. Marcel hatte immer kräftige Burschen um sich, unter anderem einen Normannen namens Baro. Manche sind mit ihm aufgestiegen. Er ist sogar berüchtigt für seine schwachen Nerven. Er kann Folter oder Hinrichtungen nicht ausstehen, allerdings, das muss ich sagen, nur als Zuschauer. Er hat schon ohne
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