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Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Blutnacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Willocks
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war, hatte er immer geglaubt, dass er woanders hingehörte, weit weg von hier, weit weg von diesem Misthaufen.
    Der heutige Tag hatte ihn eines Besseren belehrt.
    Dieser Tag hatte von innen an ihm genagt wie La Rossas Ratten.
    Jetzt taten die Spielkarten auf dem Tisch ein Übriges.
    Dabei war Grymonde an dieses Nagen gewöhnt. Er war bis ins Innerste von der Krankheit befallen. Seit Jahren starb er. Das ungeheure Gewicht seiner Knochen, seines Kopfes, die schrecklichen Verwerfungen seiner Kopfhaut, seine Entstellung, die Schmerzen in Gelenken und Händen, die geschwollene Zunge; all das konnte er aushalten oder ignorieren, sogar zu seinem Nutzen einsetzen. Selbst die Tatsache, dass sogar sein Schwanz seit Jahren nur noch zum Pissen taugte, hatte Vorteile. Der Preis für die Hurerei war ohnehin immer ein Stück seiner Seele gewesen. All das konnte er begreifen; die Entstellung und die Verletzungen, so war eben die Natur. Er hatte genügend missgestaltete Kinder auf die Welt kommen sehen und wusste das. Sein Entsetzen über sein grausiges Leiden, ob es nuneine Krankheit oder ein böser Dämon war, hatte mit den Dingen zu tun, die er nicht begreifen konnte, aber doch wusste.
    Sein Herz vergrößerte sich wie ein riesiges schwarzes Tier, das in seiner Brust wuchs. Er spürte, wie es neuerdings gegen seine Rippen pochte. Manchmal raubte es ihm den Atem. Auch seine Nieren waren befallen; sie krampften, und mitten in der Nacht musste er aufstehen und pissen wie ein Gaul. Kopfschmerzen. Bauchschmerzen. In letzter Zeit hatte ein neues Leiden seine Augen befallen, denn manchmal begannen sie in ihren Höhlen zu zittern, und er sah doppelt. Die Leute hielten ihn für groß und mächtig, aber das war er nicht.
    Er war ein toter Mann in Stiefeln, die so riesig waren wie Lastkähne.
    Er war mehr als vertraut mit diesem langsamen Verfall; aber die Ratten, die schon so lange an seinem Inneren nagten, griffen nun auch ein Organ an, das er völlig vergessen hatte. Sein Gewissen.
    Er hatte vergeblich versucht, ihren unbändigen Hunger mit barbarischer Grausamkeit zu stillen. Und dann, als das Blut ihn beinahe erstickte, hatte er seiner Mutter und Carla und dem Kind geholfen. Wie immer hatte Alice recht gehabt. Wie immer hatte er nicht zugehört, denn das Nagen war mit aller Gewalt zurückgekehrt, seit er Carla gegenüber den Namen Mattias Tannhäuser erwähnt hatte.
    Grymonde hörte fernen Donner.
    Ein Sommerregen fiel, kühlte aber die Straßen nicht ab.
    Er tappte an der Cimetière des Innocents vorüber, wo der sommerliche Gestank sogar seine an Unrat gewöhnte Nase auf eine harte Probe stellte. Pauls Gasthaus, der Blinde Pfeifer, lag hinter dem Friedhof.
    In der großen Nekropole verrotteten bereits Gobbo und die anderen, die Altan Savas getötet hatte. Hier bedeutete ein Begräbnis, dass man durch eine Klappe im Boden des Sargs in eine der riesigen Gruben fiel, die reihum aufgefüllt wurden – jede über sechzig Fuß tief mit Raum für über tausend Leichen. Hier ruhten die Verstorbenen, bis ihr Fleisch verwest war und nur noch eine fettige Masse übrig war, in der die Knochen an die Oberfläche stiegen. Im Prinzip wurden die Knochen dann herausgeschaufelt und in den Beinhäuserngestapelt, die an den Friedhofsmauern lagen und brünstigen Paaren und Sodomiten ein abgeschiedenes Plätzchen boten. In der Praxis wurde aber aus den Knochen Knochenmehl und aus dem Fett duftende Seife für Les Messieurs , deren gierige Hände sich damit sogar über das Grab hinaus nach den Armen ausstreckten.
    Nicht zum ersten Mal dachte Grymonde: Wir bringen die falschen Leute um .
    Er sah das Gasthaus zum Blinden Pfeifer durch den Regen.
    Er blieb stehen, ehe er die Straße überquerte.
    Er konnte leicht so tun, als wüsste er nichts. Das stimmte ja auch beinahe. Er brauchte nicht auf sein Bauchgefühl zu hören, um zu wissen, dass der Blinde Pfeifer eine Räuberhöhle war. Was an ihm nagte, was ihm jetzt im Weg stand, war sein Gewissen. Das hatte Carla beim Leichnam des Türken wieder aufgeweckt.
    Zum Hôtel d’Aubray zurückkehren? Zum Anfang zurück?
    Er spürte, dass er das tun sollte. Aber warum? Das begriff er nicht. Er schuldete niemandem etwas. Doch das hatte damit nichts zu tun.
    Er wollte Carla dienen.
    Er hatte noch nie jemandem gedient. Er fühlte sich gut dabei.
    Grymonde brauchte Informationen. Paul erfuhr alles Wissenswerte vielleicht nicht immer als Erster, aber zumindest als Zweiter. Er hatte einen Boten mit der Nachricht über das

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