Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Blutnacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Willocks
Vom Netzwerk:
muss der Anführer sein – oder eine, wenn sie den Mut dazu hat –, und die Anführer müssen einen schnellen Boten ernennen. Dann sollen diese Rotten ausschwärmen wie die Bienen, die Honig sammeln gehen. Gerät eine Bande in eine Schlägerei, so soll der Bote rennen und Verstärkung holen. Die Bürgermiliz ist da draußen, und die sind auch nicht gerade unsere Freunde, also passt auf. Wenn ihr kämpfen müsst, schlagt zu und rennt weg, schlagt zu und rennt. Wir wollen gut leben, nicht sterben! Und stehlt nur die besten Sachen, sonst haben wir nicht genug Platz auf unseren Karren. Seid ihr flink?«
    Ein wild gebrülltes »Ja!« und unflätige Prahlereien waren die Antwort.
    »Seid ihr grausam?«
    Die Schreie wurden noch wilder.
    »Alles für alle!«, brüllte Grymonde. »Kein Morgen!«
    Grymonde bezweifelte, dass der König wirklich einen solchen Erlass verkündet hatte. Es stimmte, das Land wurde von Idioten regiert, aber jeder Esel konnte doch sehen, dass der Mord an vierzigtausend Bürgern die Stadt ausbluten würde. Doch als die Bande die Rue Saint-Martin erreichte, vergingen ihm die Zweifel.
    Grymonde blieb stehen, und seine Gefährten hinter ihm, und dann starrten sie wie gebannt auf den Dachvorsprung eines vierstöckigen Gebäudes, von wo Milizmänner eine Familie auf die Straße stießen.
    Zuerst die Kinder, eines nach dem anderen. Die Rue Saint-Martin war eine der wenigen gepflasterten Straßen, und drei kleine Leichen lagen bereits auf den Steinen. Vier weitere Kinder waren noch oben, wimmernd, verwirrt, verängstigt durch die Schreie der Milizsoldaten und die Aussicht auf den tiefen Fall. Grymonde glaubte seinen Sinnen nicht zu trauen: Die Kinder fielen gleichzeitig langsamer und schneller, als er erwartet hatte. Sie fielen völlig stumm, als hielten sie die Luft an. Ihre Kleider flatterten kurz, dann zersplitterten ihre Knochen, und ihre Köpfe wurden auf den Steinen zerschmettert. Grymonde überlegte, dass ihr Ende, so schrecklich es auch war, doch schneller gekommen war als das seiner eigenen Opfer im Hôtel d’Aubray.
    Als Nächstes kamen drei Frauen. Sie traten eine nach der anderen durch die niedrige Tür des Dachgeschosses, hatten die Hände gefaltet, beteten und schluchzten, und dann gingen sie mit einer Würde in den Tod, die ihre Mörder beschämte, die allerdings keine Anzeichen von Scham zeigten. Diese Frauen glaubten an etwas, an das Grymonde nicht glaubte. Er dachte an Carla, und nun schämte er sich, und die Ratten in seinem Inneren fletschten die Zähne und nagten.
    Er schaute auf seine zerlumpte Truppe. Er konnte nur raten, was jeder Einzelne von ihnen fühlte, aber viele Augen waren auf ihn gerichtet, als erwarteten sie von ihm eine Erklärung, und er konnte ihnen keine geben. Er wandte sich ab.
    Zwei Hugenotten, die Bibeln in der Hand hielten, stürzten vom Dach. Dann verschwanden die Milizmänner wieder durch die Speichertür, und das Dach war leer. Aus dem verschlungenen Haufen von Leibern war jämmerliches Stöhnen zu hören.
    Grymonde schaute die Straße auf und ab. Andere Milizgruppen – vier oder fünf – brachen mit Äxten und Speerschäften Türen auf, zerrten Menschen auf die Straße und schlachteten sie ab.
    Große Verwirrung überkam ihn. Sein Herz hämmerte gegen die Rippen. Er hörte die Stimme seiner Mutter, konnte aber ihre Worte nicht ausmachen. Sein Leben lang hatte er sie geliebt und nicht auf sie gehört. Und obwohl sie ihn stets geliebt hatte, hatte auch sie nicht hingehört: nicht auf seine Wut darüber, dass aus ihm nicht der Mensch geworden war, der er hätte sein können.
    Ein bleiernes Gewicht schien ihm im Magen zu liegen. Er trug es bereits den ganzen Tag mit sich herum. Diese Last hatte er schon einmal verspürt. Darin konnte er sich nicht irren, denn nichts auf Erden wog so schwer. Er hatte sich in Carla verliebt. Welcher Dämon ihm diesen Streich gespielt hatte, er hatte sich einen guten Scherz erlaubt. Nicht zuletzt, weil Grymonde sich diesmal sicher war, wie wunderbar diese Frau war.
    »Meister?«, fragte Bigot.
    Grymonde brachte ihn mit einem Handzeichen zum Schweigen. Aber Bigot hatte recht. Sie hatten zu tun. Die Milizmänner kamen aus dem Haus gegenüber, trugen außer ihren Piken nichts in den Händen. Dann stießen sie mit ihren Waffen in die auf der Straße verstreuten gebrochenen Körper. Das Stöhnen verstummte. Die Milizmänner machten sich auf zu neuen Gräueltaten.
    Nie hatte sich Grymonde so sehr wie ein König gefühlt. Er hatte seine

Weitere Kostenlose Bücher