Die Blutnacht: Roman (German Edition)
beide großzügige Freunde gewesen. Uns.«
Die Rührung übermannte sie, und sie spürte, wie ihre Tränen rollten.
»Lass uns zum Bett gehen«, sagte Alice. »Es ist noch einiges zu erledigen. Nicht zuletzt sollte Amparo ihre erste Nahrung bekommen. Je früher, desto besser, und die Milch hilft auch bei der Nachgeburt.«
Grymonde stellte sich hinter Carla, legte ihr die Hände um die Taille und hob sie auf die Füße, als wöge sie nicht mehr als ihr Kind. Weil die Last fehlte, die sie so lang getragen hatte, verlor sie beinahe das Gleichgewicht. Sie fing sich gerade noch. Sie stellte fest, dass sie recht gut gehen konnte, war aber froh, als sie das Bett erreicht hatte. Alice breitete zwei saubere Handtücher aus. Carla setzte sich darauf und lehnte sich an die Kissen. Sie legte Amparo an die Brust, die sofort die Brustwarze in den Mund nahm und entzückt saugte.
Carlas Glück war beinahe so vollkommen wie das ihres Kindes.
»Meine Tochter. Meine wunderschöne Tochter. Und ich habe die ganze Zeit gedacht, du wärst ein Junge.«
Sie lächelte Alice an. Die deutete mit dem Kopf auf ihren Sohn.
»Was diese Frau betrifft, hast du das bessere Los gezogen.«
»Ich dachte, sie wäre ein Junge, weil sie mich so fest getreten hat.«
»Das alte Mädchen hier sagt dir voraus, dass das nicht die letzten Tritte sind, die sie dir versetzt. Hier, Liebes, spüre die Nabelschnur, solange eure beiden Herzen noch gemeinsam schlagen.«
Carla nahm die blaue Schnur in die Hand und spürte, wie ihr Blut hindurchpulsierte.
»Es fühlt sich seltsam an, aber sehr schön. Wann sollten wir sie durchtrennen?«
»Wenn sie nicht mehr pocht. Ist sie nicht immer noch ein lebendiger Teil von euch beiden? Welche Närrin würde sie durchtrennen, ehe sie ihr natürliches Ende gefunden hat?« Sie machte ein abfälliges Geräusch und hielt die Handfläche in die Höhe. »Sag’s mir nicht. Nun, da ihr beide zufrieden seid, wollen wir mal sehen, wie es mit der Nachgeburt steht. Und du, du großer Ochse, räume die nassen Binsen fort, ehe sie in dieser Hitze sauer werden. Und zieh die Vorhänge vor, wir kochen schon fast.«
Grymonde lachte. »Der große Ochse wird sich um die Glückshaube kümmern und dann um die nassen Binsen.«
»Und sag Hugon, er soll uns frischen Tee kochen.«
Grymonde fuhr herum, schnell wie ein wildes Tier, die Hand am Messer, weil aus dem Treppenhaus ein seltsames Geräusch erscholl, tief und so rau, als käme es aus dem Hals eines grausigen Geschöpfes. Carla kannte das Geräusch. Jemand hatte mit dem Bogen über die Saiten ihrer Gambe gestrichen, grob, aber recht gut.
»Keine Angst. Das ist meine Gambe.«
»Eure Gambe?«
Grymonde brüllte die Treppe hinunter.
»Wer war das? Komm sofort hier hoch!«
Mit schamrotem Kopf und ängstlicher Miene tauchte Hugon auf. Grymonde funkelte ihn an.
»Stimmt das, du Schurke? Hast du dich an der Gambe vergangen?«
»Bitte«, sagte Carla, »er hat nichts Schlimmes getan. Schimpft nicht mit ihm.«
»Es tut mir leid, Madame. Ich habe Eure Musik gehört. Wir haben sie alle gehört. Ich musste weinen.«
»Ich gebe dir gleich Grund zum Weinen, Junge!«
Grymonde hob eine Hand, und Hugon bereitete sich auf einen Schlag vor. Hugon schaute Carla ohne Reue an, aber da war wieder diese Sehnsucht, die sie schon vorhin gesehen hatte.
Hugon sagte: »Ich wollte doch nur wissen, wie der Klang erzeugt wird.«
»Du hast einen sehr guten Anfang gemacht«, sagte Carla. »Du bist so beherzt an die Saiten herangegangen, wie es nur wenige wagen.«
Hugon errötete. Er wich Grymondes wütenden Blicken aus.
Carla lächelte. »Du solltest spielen lernen.«
»Ich? Könnte ich das? Ist das möglich?«
»Ich könnte dir deine erste Stunde geben.«
»Jetzt?«
Das Gesicht des Jungen erhellte sich mit so großer Hoffnung, dass Carla beinahe ja gesagt hätte.
»Das reicht«, sagte Alice. »Bring uns Tee, und alles ist vergessen.« Sie verscheuchte die beiden mit einer Handbewegung.
»Hugon ist ein Außenseiter, aber eine gute Seele. Er ist anders als die anderen, aber zu jung, um zu wissen, wie und warum. Er muss dafür leiden. Wenn er erst ein Mann ist, wird er noch mehr leiden.«
»Ich wollte nicht freundlich sein. Die Gambe hat für ihn gesprochen.«
»Diese Frau hier hat es auch gehört. Aber viele können sprechen, die niemals gehört werden.«
Der Schatten kühlte den Raum. So sanft, dass Carla es kaum merkte, überprüfte Alice die Spannung der Nabelschnur, zog aber nicht
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