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Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Blutnacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Willocks
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tief Luft holen würde, wie er es wollte.
    »Ich sehe es vor mir«, sagte Retz. »Ja, ich sehe es alles vor mir.«
    Tannhäuser überlegte, was er da für einen Rat gegeben hatte. Mancher würde den Vorschlag für ungeheuerlich halten. Carla auf jeden Fall. Vielleicht war er das auch. Und doch hatte er nichts gesagt, das nicht der Wahrheit entsprach. Das war nicht sein Problem.
    »Ihr habt mir einige sehr schlagkräftige Argumente gegeben«, sagte Retz. »Was kann ich jetzt für Euch tun?«
    »Für mich?«
    »Niemand kommt dem Thron so nah wie Ihr, ohne um einen Gefallen zu bitten. Eine Beförderung, eine Rente, eine Begnadigung, Verleihung eines Monopols, einen Lieferantenvertrag. Das Leben des Hofes besteht aus einer immerwährenden Runde von Bitten um Aufstieg und Vorteile, von allen, die Zutritt bekommen.«
    Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte Tannhäuser Retz nach allen Regeln der Kunst ausgenommen, aber heute fühlte er sich besudelt. Er hatte die Wahrheit gesprochen, wusste aber gleichzeitig, dass man ihn benutzt hatte. Dafür wollte er nicht bezahlt werden.
    »Ich weiß Euer Angebot zu schätzen, doch ich möchte in niemandes Schuld stehen. Ich möchte nur wieder mit meiner Frau vereint sein, sonst nichts.«
    »Ich bin enttäuscht.« Retz lächelte. »Eure Antwort lässt mich wünschen, dass Ihr tatsächlich in meiner Schuld stündet. Stattdessen stehe ich in Eurer. Meine Hochachtung, mein Herr.«
    »Ich suche meine Frau und muss dazu einen Amtsträger im Palast namens Christian Picart finden. Wenn ein Wort von Euch mir diese Aufgabe erleichtern könnte, wäre ich dankbar.«
    »Ein schlichter Gefallen ist kaum eine Belohnung, aber ja, natürlich mache ich das gern.«
    Sie stiegen aus der Kutsche.
    Jenseits eines Platzes stand im Osten der Louvre: ein Teil Festung, ein Teil Palast, von verschiedenen Königen zu verschiedenen Zeiten erbaut und gegenwärtig eine seltsame Mischung unterschiedlichster Architekturstile. Westlich ragten die Stadtmauern über allem auf. Ein Tor führte gleich beim Fluss durch die Mauer, und dort hatte die Kutsche angehalten. Durch das Tor konnte Tannhäuser üppige Gärten und den Flügel und Pavillon eines halb vollendeten Gebäudes von erlesener Schönheit erblicken. Baumaterial lagerte überall in großen Haufen, aber nirgends waren Bauarbeiter zu sehen.
    Eine Abordnung der Schweizer Garde kam zur Kutsche. Ihre Hellebarden und Rüstungen glänzten in der Abendsonne. Sie mieden jeden Blickkontakt. Auch drei Höflinge waren gekommen. Der Anblick Tannhäusers, der aus der Kutsche stieg, schien ihre Selbstachtung zu beleidigen. Er sah, dass sie sich fragten, wer er wohl sein mochte, dass ihm so große Nähe zu Retz gestattet wurde. Hauptsächlich überlegten sie natürlich, welche Bedrohung er darstellen könnte. Retz wandte sich an den Jüngsten, der auch der Korpulenteste war.
    »Arnauld, geleitet den Comte de la Penautier in den Palast. Er wird Euch sagen, was er braucht, also sorgt dafür, dass er es bekommt.«
    Arnauld verneigte sich tief, um seinen Verdruss darüber zu verbergen, dass er statt der vornehmen Gesellschaft nun die eines Grobians erdulden musste. Er schaute Tannhäuser mit unverhohlenem Widerwillen an.
    »Gut genährt wird man jedenfalls im Palast«, meinte Tannhäuser.
    Retz lachte.
    Auch die Höflinge wagten zu kichern, einschließlich des dicklichen Jünglings.
    »Es tut mir leid, dass unsere Begegnung nur so kurz war«, sagte Retz. »Gott segne Euch und schenke Euch glückliche Tage.«
    Sie verneigten sich beide. Retz ging mit seinem Gefolge nicht auf den Palast zu, sondern auf die Gärten. Guzman zwinkerte Tannhäuser im Vorübergehen zu, und der nickte zum Dank. Er wandte sich um, als Grégoire angerannt kam. Der Junge war schweißüberströmt. Das mit einem Band verschnürte Paket mit dem Taufkleid hatte er sich unter den Arm geklemmt. Er schien zu hinken.
    »Tun dir die neuen Schuhe weh? Dann zieh sie aus.«
    Grégoire litt zwar, war aber entrüstet. »Die Schuhe sind wunderbar, Herr.«
    Arnaulds Entsetzen war noch größer geworden. »Dieses Geschöpf kommt auch mit uns?«
    »Grégoire, dieser freundliche junge Herr hat sich anerboten, uns in den Louvre zu begleiten.«
    »Tannhäuser!« Retz war beim Tor stehengeblieben. »Noch eine letzte Frage.«
    Tannhäuser schaute zu ihm und wartete ab.
    »Würdet Ihr Eure liebsten Freunde für das Wohl des Volkes umbringen?«
    »Meine liebsten Freunde sind die einzigen Menschen, die ich habe. Für ihr Wohl würde ich

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