Die Blutnacht: Roman (German Edition)
alle und jeden umbringen.«
KAPITEL 3
S CHWEINE
Arnauld de Torcy führte sie durch eine Reihe von Flure, Salons und Hallen, deren Extravaganz Grégoire mit offenem Mund bestaunte und die Tannhäuser mit Verachtung erfüllten. Er war durchaus empfänglich für schöne Bauten, aber in der letzten Zeit hatte er zu viel verbrannte Erde gesehen. Außerdem bauten die Italiener besser.
Von den antiken Römern inspirierte Statuen waren reichlich vorhanden, dazu verziertes Mauerwerk, zarte Friese und Allegorien, die das phantasievolle Genie der Familie Valois bezeugen sollten. Jede Galerie, jede Zimmerdecke sang das Loblied ihrer Herren und deutete von Gewalt und Gier geprägte historische Großtaten zu erhabenen Mythen um. Alles war neu gebaut und so verschwenderisch, dass Tannhäuser sich nicht wunderte, dass zu Wucherzinsen in Italien geliehenes Geld notwendig war, um alle Rechnungen zu bezahlen. Mit jedem Schritt, den er machte, sah er viele Jahre mit höheren Steuern kommen. Haushaltsbedienstete eilten geschäftig hin und her, um die Launen der feinen Herrschaften zu befriedigen, die so zahlreich wie abstoßend waren. Wenn Arnauld auf einen neuen Raum zu stolzierte, verneigten sich die Lakaien und öffneten ihm zweiflüglige vergoldete Türen.
»Ihr müsst wissen, dass für die meisten Höflinge nur ein Türflügel geöffnet wird«, erklärte Arnauld.
»Hast du das gehört, Grégoire? Solchen wie uns müssen sie immer beide aufmachen.«
Hier in den Salons des Pavillons herrschte genau wie auf den Straßen eine allgemeine, unterschwellige Unruhe. Doch dies hinderte die Höflinge nicht daran, entschlossen die Dekadenz zur Schau zu stellen, für die dieser Hof berüchtigt war. Frauen von unglaublicher Schönheit und hohem Rang entblößten ihre Brüste für die gelangweilten Herren, die träge auf den Möbeln herumlungerten. Einige der Herren trugen silberne Käfige mit Miniaturhunden um den Hals. Ein hübscher junger Diener reichte jemandem einen stärkenden Likör, während einer der Gentlemen den Schritt des Bediensteten mit dem Zeigefinger liebkoste und damit Kichern und Quietschen der Umsitzenden hervorrief. Der Diener ertrug alles mit bewundernswertem Gleichmut und verschüttete keinen einzigen Tropfen Likör. Überall lag der Gestank von Urin in der Luft.
»Wenn man aus der Provinz kommt, mag einem dies wie ein Paradies erscheinen«, sagte Arnauld, »aber Ihr seht hier den erbitterten Kampf um die Eroberung eines höheren Platzes auf der Pyramide des Vorrangs. Die Ehrgeizigen denken sich ständig neue komplizierte Manöver aus, um ihre eigene Vorherrschaft zu sichern oder die ihrer Rivalen zu untergraben. Es sieht vielleicht fröhlich aus, aber hier herrscht wenig echte Freude, vielmehr ein ständiges Auf und Ab von Misstrauen, Eifersucht und Gehässigkeit. Ich bezweifle, dass Ihr hier weit kommen würdet, aber das könnt Ihr getrost als Kompliment auffassen.«
Als sie von einem Gebäudeflügel zum anderen gingen, sah Tannhäuser, wie eine Frau mit einer Masse goldener Locken die Röcke ihres blauen Seidenkleides lüpfte, für dessen Perlenschmuck allein man einen kleinen Bauernhof hätte kaufen können. Sie kauerte unter einer Treppe über einem Haufen menschlicher Exkremente.
»Und was sehe ich da?«, erkundigte er sich. »Ist das ein kompliziertes Manöver, um sich die Vorherrschaft zu sichern? Oder ihr erbitterter Kampf um die Eroberung eines höheren Platzes auf der Pyramide?«
»Deswegen muss der Hof alle zwei Monate von einem Palast zum nächsten umziehen«, erwiderte Arnauld angeekelt. »Der Gestank wird unerträglich, und das Gebäude muss gelüftet werden, aus Angst vor der Pest.«
Schweizer und Französische Garden waren so platziert, dass sie jeden Raum und jeden Korridor überwachten. So sperrten wahre Wälle aus Schweizer Stahl bestimmte Treppen und Eingänge völlig ab. Darüber befanden sich die Räume der königlichen Familie. Arnauld und seine Schützlinge verließen den Pavillon du Roi durch einen großartigen Bogen.
Ein riesiger Innenhof tat sich vor ihnen auf, vielleicht hundert Schritte im Quadrat. Er war von unterschiedlichen Gebäuden umgeben, alten, neuen, halb abgerissenen und halb errichteten. Der Nord- und der Ostflügel waren uralt. Im Gegensatz zu den neuen Flügeln im Süden und Westen, die man zur Befriedigung der Laster seiner dekadenten Bewohner errichtet hatte, war der alte Louvre eine Schutzburg gewesen. Seine drei runden Türme mit den Kegeldächern erhoben sich
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