Die Blutnacht: Roman (German Edition)
warum.
»Bist du verletzt, Junge?«
»Nein.«
»Nimm Rodys Messer und seinen Bogen, und pass auf. Stell mich über ihn.«
Das machte La Rossa. Er hörte Schmerzenslaute. Er bewegte einen Fuß und traf ein Bein.
»Großer Gott und Heiland am Kreuz!«
Rodys Entsetzen schien übermäßig, selbst wenn man in Betracht zog, dass er dem Tod ins Antlitz schaute. Dann erinnerte sich Grymonde an die Höhlen in seinem Kopf. Ein schrecklicher Anblick, überlegte er. Er grinste, und Rody schrie auf.
Grymonde fiel auf die Knie und spürte, wie unter dem Fleisch, das seinen Fall abfederte, Knochen splitterten. Finger griffen nach seinem Hals, und er packte ein Handgelenk und die Hand, zerquetschte und verdrehte sie. Flammen loderten in seinem Gesicht auf und trugen ihn in einer Spirale der Ekstase nach oben, und von den nächsten Augenblicken merkte er kaum etwas, nur wie etwas unter seinen Händen zerbrach. Dann hörte er La Rossas Stimmeund kam wieder zu Boden, in die gelassene Heiterkeit, aber eine viel zufriedenere Heiterkeit.
Er stand schwankend auf.
»Hugon? Bist du da? Gib mir Rodys Fußgelenk in die Hand. La Rossa, führe mich.«
Er schleppte Rody auf den Viehhof.
Estelle gab ihm die Armbrust, und er spannte sie.
»Hugon, erkläre, was du gemacht hast.«
»Ich bin Carla und ihrer Gambe von den Höfen aus gefolgt.«
»Und hast dich von Rody erwischen lassen?« Grymonde lachte. Er war gnädig gestimmt. »Aber gut gemacht. Keine Angst. Tannhäuser ist hineingegangen, um Carla zurückzuholen.«
»Wo hineingegangen?«, sagte Hugon.
»Hugon, warum sind deine Kleider nass?«, fragte La Rossa.
»In Le Telliers Haus, wohin sonst?« Grymonde fühlte sich heiter, aber verwirrt. »Nass?«
Hugon sagte: »Carla ist nicht im Hôtel.«
Grymonde lachte. Sollte der Junge doch auch mal einen Scherz machen.
»Sei ruhig«, sagte La Rossa.
»Hugon macht Witze.«
»Er macht keine Witze. Hugon, wenn Carla nicht im Hôtel ist, wo ist sie dann?«
KAPITEL 28
D ER E NGEL
Der Engel schaute zu, wie Tannhäuser die Tür schloss. Sie wusste, dass er da drinnen nicht finden würde, was er finden musste. Nicht den Gral, nach dem er suchte. Nicht das Geheimnis, nach dessen Lösung er sein Leben lang geforscht hatte und das er nirgends finden würde, erst am letzten Ort, an dem er suchen würde, nämlich in sich selbst. Im Hôtel Le Tellier würde er nur Gründe finden, noch weiter zu toben und Angst und Schrecken zu verbreiten. Er würde dies ohne Zögern tun, aber er würde einen Preis dafür zahlen.
Der Engel war traurig.
Tannhäuser maß seinem Leben keinen großen Wert bei. Es beleidigte ihn, dass er es noch hatte, während andere, edlere und sanftere Menschen als er, es nicht mehr besaßen. Während man es diesen Edleren und Sanfteren vor seinen Augen geraubt hatte. Diese Ungerechtigkeit, dieser Fehler in der Logik alles Lebendigen war die Sünde, die er mit ins Grab tragen würde, vielleicht darüber hinaus.
Und doch spielte er auch mit dem Leben derjenigen, für die er sterben würde. Er spielte mit dem Leben derjenigen, für die er die ganze Welt zerstören würde und dieses Leben gleich mit. Dieser andere Fehler in der Logik alles Lebendigen beleidigte ihn nicht, denn er wusste irgendwie, dass die Existenz mehr war als nur das Leben.
Er würde seine Tochter Amparo durch eine Hölle reiten lassen, die nur Menschen so schaffen konnten. In den Armen eines zerlumpten Straßenmädchens und auf den Schultern eines blinden Ungeheuers, weil er wusste, wenn er auch nicht sagen konnte, woher,dass seine Tochter, die noch keinen halben Tag atmete, schon die vollkommene Existenz und Ekstase und Schönheit und Liebe und das Leben selbst erlebt hatte, auch wenn sie noch nichts von der Welt wusste.
Diese Glücksspiele und die schrecklichen Taten, die damit einhergingen, quälten ihn. Und doch würde niemand je von diesen Schmerzen erfahren. Niemand wusste davon, nur er und seine Engel.
In dieser jämmerlichen Welt wagte niemand solches Wissen und solche Glücksspiele wie er. Niemand sonst konnte es ertragen, was er seiner Seele antat, niemand setzte sich so der Gefahr aus, nicht nur die Seele, sondern auch den Verstand zu verlieren.
Der Engel war die Liebe. Alle Engel waren die Liebe, die mit schwarzen und die mit weißen Schwingen. Das war ihr Daseinszweck. Sie waren nicht da, um zu sehen, was kommen würde. Aber dieser Engel wusste, dass Tannhäuser recht hatte.
Er würde nicht in Paris sterben.
So gnädig würde das Schicksal
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