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Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Blutnacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Willocks
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menschenleeren Kreuzgänge nach Notre-Dame. Amparo begann zu schreien und hatte für ein so winziges Wesen eine überraschend kräftige Stimme. Tannhäuser war hingerissen. Was für ein Temperament! Estelle murmelte ihr beruhigende Worte zu. Amparo weinte immer noch, als sie die Vorderseite der Kathedrale erreichten. Tannhäuser legte sein Gepäck ab und stellte die Laterne hin. Er hob Estelle von der Schulter.
    »Ich glaube, sie will mich anschauen«, sagte Estelle.
    Sie knöpfte ihre Bluse auf und drehte Amparo um. Sie kauerte sich im Schein der Laterne an die Mauer und murmelte dem Kind leise Worte zu, bis es ruhig wurde.
    Tannhäuser nahm die Armbrust auf und schaute sich auf dem Vorplatz um. Es war alles ruhig, bis auf zwei Milizmänner, die den Haupteingang bewachten. Sie hatten ihre Piken an den Torbogen gelehnt. Eine Laterne stand zu ihren Füßen.
    Tannhäuser kehrte zurück, nahm Estelle bei der Hand und zog sie hoch.
    »Ich schicke dich jetzt in die Kathedrale. Warte in der Nähe des Taufbeckens auf mich. Geh mir mit der Laterne voraus.«
    Er folgte zwei Schritte hinter ihr, wo selbst die kleine Flamme derKerze alle so blenden würde, dass sie ihn nicht sehen würden. Die Wachen sahen Estelle und rappelten sich auf die Beine, allerdings eher aus Neugier als aus Wachsamkeit. Noch zwei standhafte Bürger, die man für ungeheure Übeltaten rekrutiert hatte.
    Tannhäuser trat rechts von Estelle vor und richtete die Armbrust auf die beiden.
    »Der erste, der eine Hand an seine Waffe legt, kriegt einen Bolzen in die Eier. Das gleiche gilt für den ersten, der einen Mucks sagt.«
    Beide starrten auf die Armbrust. Keiner regte sich.
    »Ihr müsst heute Nacht nicht sterben. Denkt an eure Frauen und ein weiches Bett. Du da, nimmt die Laterne. Ihr beide, dreht euch um und nehmt euch bei der Hand.«
    Sie gehorchten. Sie hielten sich an der Hand, als suchten sie gegenseitig Trost.
    »Estelle, geh hinein.«
    Er schaute Estelle hinterher, die durch das Portal schritt. Er nahm eine Pike auf.
    »Geht um die Kirche herum.«
    Er wies sie an, im Schatten des südlichen Querschiffs stehenzubleiben.
    »Weg mit den Helmen. Stell die Laterne ab. Gesichter zur Mauer.«
    Sie gehorchten, ohne die Hände loszulassen. Tannhäuser lehnte die Armbrust an die Mauer und stieß dem ersten die Pike in den Nacken. Der zweite wagte es nicht, sich um zudrehen. Als sein Kamerad lautlos zu Boden sank, ließ er dessen Hand nicht los.
    »Mein Gott, ich bereue von ganzem Herzen, Dich erzürnt zu haben und ich …«
    Tannhäuser stach auch ihn mit der Pike nieder. Er stellte die Waffe ab, nahm die Laterne und die Armbrust wieder auf und kehrte zum Vorplatz zurück. Er ließ die Laterne im Portal stehen und betrat Notre-Dame.
    Tannhäuser schaute sich in der Kathedrale rasch nach bewaffneten Männern um und sah überhaupt keine Männer. Beide Gänge vor dem Querschiff waren mehr als halb voll mit Frauen und Kindern, die zumeist in Gruppen oder in Paaren dastanden, von denen einigeauch in einsamem Leid hier gestrandet waren. Andere, besonders die Kinder, schliefen auf den Bänken oder den Bodenkacheln. Es war viel Weinen und Wehklagen zu hören. All die Einzelstimmen fügten sich zu einem seltsam harmonischen Klang zusammen, zu einem unendlichen Leidenschor.
    Er fand Estelle beim Taufbecken. Sie hatte Amparo an die flache, schmale Brust gelegt, und das Kind nuckelte an einer ihrer Brustwarzen. Der Anblick überraschte ihn. Aber beide schienen mit dieser Lösung zufrieden zu sein, und keine von beiden schien sie unnatürlich zu finden. Also ließ er sie gewähren.
    Er zog sich in eine dunkle Nische zurück, sicherte die Armbrust und verstaute sie mit seinen zwei Bolzen und dem Köcher des Sergent . Altans Bogen und Köcher versteckte er in einer noch dunkleren Ecke. Er sicherte auch die Pistole und verbarg sie dort. Er nahm das Hemd von den Hüften, das er sich mit den Ärmeln umgebunden hatte. Die Ärmel waren blutbespritzt, und er wrang und klopfte das geronnene Blut heraus, so gut es ging. Er würde Estelle und Amparo zu Pater Pierre mitnehmen. Vielleicht nicht die beste Begleitung, wenn man sich nach der Unterkunft eines Kupplers erkundigte, aber Pater Pierre war sicherlich anrüchige Gesellschaft gewohnt.
    Der Rest des Hemdes war feucht, aber nicht zu blutig. Er schüttelte es gründlich aus. Das weiße Kreuz auf der Vorderseite war dunkelrot, aber Pater Schnüffler mochte sich dabei denken, was er wollte. Tannhäuser zog das Hemd an. Es

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