Die Blutnacht: Roman (German Edition)
hatten zwischen ihnen gestanden, und doch waren sie hier, beide, im Schmelztiegel des Hermes Trismegistus. Nun stand nur noch seine Schuld zwischen ihnen.
»Tannser, sieh nur!«
Tannhäusers Herzschlag war so rasch wie der des Kindes. Plötzlich war er sich bewusst, welchen furchtbaren Anblick er bieten musste. Aber sie hatte dergleichen ja schon gesehen. Zumindest hatte er sich das Gesicht gewaschen; wenn er gewusst hätte, dass sie hier sein würde, hätte er sich auch den Mund ausgespült. Er drehte sich um.
Ihr Blick traf ihn ins innerste Herz.
Carla.
Sie schauten einander lange an.
Sie hatte ihn immer besser gekannt als er sie. Er barg nur wenige Geheimnisse, sie unzählige. Ihre grünen Augen glitzerten, Feuer und Tränen. Sie sahen aus wie Wunden. Er war einer derjenigen, die ihr diese Wunden zugefügt hatten. Die tiefsten. Er liebte sie. Mit unendlichem Schmerz liebte er sie, und er wusste, dass er dieser Ehre nicht würdig war. Aber sie brauchte seine Beschämung nicht. Was brauchte sie? Was konnte er ihr geben?
Ein Lächeln konnte nicht schaden, oder?
Ein wilder, ungestümer Geist blitzte zwischen ihnen auf, die Quintessenz ihrer unwahrscheinlichen und kühnen Liebe, und der Schmerz in ihren Augen schwand so plötzlich, dass er sich fragte, ob er ihn wirklich gesehen hatte.
Es war also alles gut.
Sie liebte ihn immer noch.
Sein Schmerz verging, aber seine Liebe war nie zärtlicher und heftiger gewesen.
Er nahm ihr Gesicht wahr, ihren Körper.
Das Herz zog sich ihm zusammen, und er holte tief Luft.
Sie stand in ihrem blutbefleckten Kleid im Kirchenschiff und versuchte nicht zu wanken. Sie war nicht erschöpft. Er hatte schon gesehen, wie sie monatelang völlige Erschöpfung aushielt. Sie war schwach, und er hätte nie gedacht, dass sie diesen Zustand je erreichen würde. Das Blut auf ihrem Kleid war ihres, und sie hatte es für ihr Kind vergossen. Das Haar hing ihr in einem Zopf auf der Brust. Nie hatte er sie so schön gefunden.
Er trat auf sie zu, breitete die Arme weit aus, umfing sie und zog sie an seine Brust. Sie schaute ihn mit zusammengebissenen Zähnenan, wie sie das manchmal machte. Er spürte, wie sich ihre Fingernägel in seinen Arm gruben, bis es schmerzte.
So schwach also doch nicht. Er hielt ihr das Kind hin. Amparos Heulen verstummte, nur noch die Lippen bebten.
Tannhäuser lächelte.
»Carla, Liebste, unsere Nachtigall hat Hunger, und meine Dornen haben ihr noch kein Leid zugefügt.«
KAPITEL 33
N UR EIN WEITERES K IND
Carla wurde klar, dass sie Amparo zum ersten Mal weinen hörte.
Doch trotz all des Wehklagens, das in der Kathedrale widerhallte, darunter auch manche Schreie von Säuglingen, wusste sie beim ersten Ton, dass dies die Stimme ihrer Tochter war. Das Geräusch drang durch ihre Verzweiflung und rüttelte sie daraus auf. Kaum hatte sich ihr leidenschaftlichster Wunsch erfüllt, da hatte sie auch schon Angst, sich zu irren. Die Vernunft sagte ihr, dass sie sich irren musste. Es war die schiere Verzweiflung, die die Stimme erkannte, nicht ihr Ohr.
Das Schreien kam aus dem hinteren Teil der Kirche.
Amparo konnte nicht hier sein. Niemand wusste, dass Carla hier war, außer Bonnett, und warum sonst sollte jemand Amparo hierher bringen, und wer würde sich mit einem kleinen Kind in diese blutige Nacht hinauswagen, und wie? Sie versuchte zu rasch aufzustehen. Ihr wurde schwarz vor Augen, und sie setzte sich wieder hin. Sie durfte nicht in Ohnmacht fallen. Bis sie wieder zu sich gekommen war, wäre Amparo vielleicht schon wieder fort. Sie senkteden Kopf auf die Knie und atmete gleichmäßig. Ihr Kopf wurde klarer. Sie konnte das unverkennbare Schreien immer noch hören, das nun lauter denn je und eindeutig empört klang, aber noch immer nicht näher gekommen war.
Carla richtete sich langsam auf. Sie streckte die Hand aus und ergriff Antoinettes Hand.
»Antoinette, komm her und setze dich zu meiner Linken hin.«
Antoinette schlängelte sich an Carlas Knie vorüber und setzte sich neben sie. Carla rutschte auf der Bank weiter, schwang die Beine über den Gambenkasten, um sich auf die äußerste Kante der Bank zu setzen. Ihr Becken fühlte sich steif an. Sie hatte große Schmerzen. Wieder spürte sie, wie etwas an ihrem Bein entlangrann. Sie drehte sich um und schaute durch das Kirchenschiff. Sie vergaß ihren Schmerz.
Da lauerte eine barbarische Gestalt in den hintersten Schatten von Notre-Dame.
Mattias kam mit großen Schritten durch das Kirchenschiff auf sie
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