Die Blutnacht: Roman (German Edition)
zuerst.«
Sie schlüpfte in die Gasse hinein. Carla sah, dass Grymonde und sie zusammen nicht durch die Öffnung passen würden.
»Grymonde, ich muss selbst laufen. Wir haben eine Gasse erreicht, die zu schmal für uns beide ist. Und ich rieche den Fluss. Wir sind bei den Kais. Du hast es geschafft.«
Grymonde ließ sie herunter. Ihre Beine trugen ihr Gewicht, ohne zu zittern. Sie war so erschöpft gewesen, dass das Ausruhen in Grymondes Armen ihr mehr Kraft zurückgegeben hatte, als sie zu hoffen gewagt hatte. Grymonde biss die Zähne zusammen, hob die Arme und pflückte sich Estelle von der Schulter. Ihr Gesicht strahlte vor Entzücken, als sie durch die Luft flog. Er unterbrach die Bewegung in der Mitte, als hätte er sie sonst fallen lassen. Dann ließ er sie sanft zu Boden und beugte sich vor, die Hände auf die Knie gestützt, und keuchte, wenn auch nicht aus Atemlosigkeit. Seine Schultern versteiften sich, bis sie bebten. Er warf den Kopf zurück. Er knurrte.
»Nun geht schon.«
»Wir können nicht weiter«, sagte Carla.
»Du kannst nichts sehen«, erklärte Estelle. »Also können wir dich nicht hier zurücklassen.«
»Nimm meine Hand«, sagte Carla. »Wir können seitlich durchgehen.«
Grymonde rutschte mit den Händen die Oberschenkel hoch. Er richtete sich mühsam auf.
Carla schmiegte Amparo an ihr Herz und legte ihre rechte Hand in Grymondes Linke. Seine riesigen Finger schlossen sich um ihre. Er drückte fester, als er meinte, aber längst nicht so fest, wie er konnte. Er kämpfte nicht gegen die Blindheit oder gegen den Schmerz. Er kämpfte darum, der Mann zu sein, der er meinte, sein zu müssen. Noch nie hatte Carla eine so tiefe Traurigkeit gespürt wie jetzt um ihn. Er hatte diesen Kampf sein Leben lang geführt und hatte ihn Tausende von Malen gewonnen. Der Händedruck gewährte ihr einen Blick auf den Mann, der er hätte sein können. Grymonde wandte ihr das Gesicht zu. Die feuchten Augenhöhlen schienen sie deutlicher zu sehen als jeder andere Blick. Auch er hatte kurz diesen anderen Mann gesehen, sagten ihr die Augenhöhlen, aber dieser Blick war zu spät gekommen.
»Der Gehängte lächelt, weil er nicht weiß, dass er gehängt wurde. Noch viel weniger, dass er selbst der Henker war. Der Narr lächelt, weil er es weiß.«
»Estelle, gib Grymonde die Pistole und halte seinen kleinen Finger.«
Carla führte sie hinter den Mäusen und den Laternen her durch die Gasse. Grymondes Rücken und Brust, sogar sein Kinn und sein Hinterkopf schrammten an den Mauern entlang. Hugons Kraft war von dem Gewicht, das er sich aufgeladen hatte, so sehr gefordert, dass er von einer Mauer zur anderen taumelte. Aber er schob trotzdem den Gambenkasten mit leisem, entschlossenem Knurren vor sich her, aus dem Carla, als sie näher kam, sehr phantasievolle Obszönitäten heraushörte. Sie fragte sich, wo Mattias war. Sie hatte gehofft, er wäre inzwischen hier, da sie ja auch eine Verzögerung gehabt hatten. Wenn sie beide sterben mussten, dann wollte sie mit ihm zusammen sterben.
»Grymonde, du musst mich aufheitern. Lass mich noch eine von deinen Jammerreden hören.«
»Wir hören gleich ein paar Reden aus meinen Eingeweiden, wenn ich nicht bald hier raus komme.«
Pascales Fackel tauchte am Ende der schmalen Gasse hinter Hugon und den Mäusen auf.
»Alle zurück. Sie kommen in Booten über den Fluss.«
KAPITEL 37
P FERDE UND J UNGEN
Tannhäuser deutete mit einer Geste auf eine Stelle links von der ersten Reihe der Pilger. Schon schwenkten sie alle vier ihre Speerspitzen in diese Richtung. Hätten sie statt der Geste seine Körperbewegung beobachtet, so hätten sie bemerkt, dass er nach rechts unterwegs war.
Hellebarde, Partisane, Halbpike. Der große Vorteil, aber auch die Gefahr dieser Stangenwaffen lag in ihrem Gewicht. Je schwerer eine Waffe war, desto schwieriger war es, sie gut zu handhaben. Wenn sie richtig eingesetzt wurde, konnte man sich nur höllisch schwer gegen diese Gewalt zur Wehr setzen. Aber gleichzeitig konnte man genau deswegen auch ihre Richtung nur mit großer Mühe ändern.
Mit einem Schritt war Tannhäuser so nah an seine Gegner herangetreten, dass ihnen all ihre Speerspitzen nichts mehr nutzten. Mit heftigen Schlägen und Stößen hackte er auf die Schienbeine der beiden äußeren Pilger ein und spürte, dass er dreimal tief getroffen hatte. Mit einer Drehung zog er den eisenbeschlagenen Schaft seiner Waffe an die Hüfte, griff ihn weiter vorn und drängte den nächsten
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