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Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Blutnacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Willocks
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schluckte, und Tannhäuser ließ ihn los. Der Junge hustete, aber das Kügelchen blieb drin. Tannhäuser korkte den Weinschlauch zu. Er legte Juste eine Hand auf den Kopf. Er spürte, wie der Junge schluchzte.
    »Dich brauchen wir auch, Juste. Halt ihn fest!«
    Tannhäuser nahm das amputierte Bein beim Fuß und schleuderte es weit weg. Er nahm die Fackel zwischen den Speichen hervor. Er sah sein Hemd hinter dem Kutschbock, nahm es und wickelte es sich zweimal um die offene linke Hand, wandte Grégoire den Rücken zu und hob den Beinstumpf an. Der zweite Knochen war glatt durchtrennt, auf gleicher Höhe mit den Splittern des ersten. Der Überrest des Wadenmuskels hatte sich unter die Haut zurückgezogen. Ebenso die Blutgefäße, die er jetzt noch ausbrennen musste. Tannhäuser hielt das Kniegelenk fest umfangen und berührte den Stumpf mit der Fackel.
    Er sprach langsam ein Ave Maria , um die Zeit abzuschätzen.
    Er konnte sich über die Schreie hinweg nicht sprechen hören.
    » Gegrüßet seist du Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir .«
    Grégoire trat wild um sich. Tannhäuser betete, dass der Junge ohnmächtig werden würde.
    » Du bist gebenedeit unter den Weibern, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus .«
    Er rollte den brennenden Schwamm der Fackel über die rohen Oberflächen der Wunde.
    » Heilige Maria, Muttergottes, bitte für uns Sünder …«
    Er drückte tief in das zusammengeschnurrte Gewebe, um die Gefäße zu verschließen.
    » … jetzt und in der Stunde unseres Todes .«
    Seine eigene Hand begann durch das Hemd hindurch zu brennen.
    » Amen .«
    Grégoire sackte schlaff in Justes Umarmung zusammen.
    Tannhäuser zog die Fackel weg, und schlagartig traf ihn der Geruch nach verbranntem Fleisch. Rauch stieg vom Beinstumpf auf. Pech loderte auf und verglühte in der Wunde. Das versengte Hemd qualmte auch. Tannhäuser ließ die Fackel fallen und lockerte den Riemen. Der leichte Blutfluss begann zu gerinnen. Ein dünner geschwärzter Knochen schaute zwischen der versengten Haut und den Muskeln hervor. Es sah grässlich aus, aber die Arbeit war getan. Er wickelte das Hemd um den Beinstumpf und band es mit den Ärmeln fest. Er hörte aus dem Norden einen Pistolenschuss.
    Noch einen.
    Pascale.
    Amparo. Estelle.
    Carla.
    Was immer geschehen war, wäre längst vorüber, ehe er dort ankam.
    Er hörte Hufgetrappel und schaute die Straße hinauf. Ein Reiter kam von der Kreuzung herangetrabt. Tannhäuser nahm die Hellebarde auf und machte einen Schritt vor, um ihm entgegenzutreten.
    Wenn das Pferd keine Kampferfahrung hatte, würde es wahrscheinlich vor den Leichen zurückscheuen, die die Straßen verstopften, vielleicht sogar schon früher, denn Menschen konnten den Blutsumpf zwar nicht aus der Ferne riechen, Pferde aber sehr wohl, und es machte sie sehr nervös. Sie fürchteten sich auch vor den scharfen Spitzen der Piken, wenn sie sie bemerkten. Tannhäuser erreichte das äußere Ende des Leichenhaufens und klemmte das Ende der Hellebarde in eine Furche unter der am nächsten liegenden Leiche, die kopflos war. Er hob den Kopf an den blutgetränkten Locken auf. Dann richtete er die Lanzenspitze auf das Pferd und drehte sie so, dass das Licht der gefallenen Fackel ein wenig vom Stahl zurückgeworfen wurde. Schlimmstenfalls würde sich das arme Tier aufspießen; wenn er Glück hatte, würde er das Pferd bekommen, das er brauchte.
    Der Reiter war nicht Garnier. Er war nicht groß genug. Brustharnisch. Helm. Ein gezogenes Schwert, das zu sehr hin und her wankte. Er saß nicht im Sattel wie jemand, der daran gewöhnt war, schon gar nicht bei einem Angriff. Tannhäuser stieß ein Knurren aus und schleuderte den abgetrennten Kopf auf die Straße.
    Das Pferd nahm alles auf einmal war: den Schrei, den Blutgestank und den Anblick der Leichen, das Wurfgeschoss und die Klinge. Es bäumte sich auf und wich nach rechts in Richtung einer Seitenstraße aus. Seine Hufe hüpften und schlitterten, als es eine neue Gangart versuchte, und der abgetrennte Kopf klatschte gegen den Brustharnisch des Reiters. Tannhäuser ließ die Hellebarde fallen und rannte.
    Der Reiter schwankte nach hinten, und als er sich vorbeugte, um sich aufzurichten, taumelte er weit zur anderen Seite. Er wäre wohlim Sattel geblieben, wenn nicht das Gewicht seiner Ausrüstung völlig ungewohnt für ihn gewesen wäre. Als er mitten unter den stöhnenden Verletzten landete, machte Tannhäuser einen Satz über seine Beine, um auf das Pferd zu

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