Die Blutnacht: Roman (German Edition)
die alte graue Stute gebraucht hätte, hätte er mir die Kehle schon längst ohne Zögern durchgeschnitten.«
Carla widersprach ihm nicht. »Du solltest nicht sprechen.«
»Es ist das letzte Gespräch, das ich je führen werde. Und kostbarer als alle anderen in meinem Leben. Allerdings waren die anderen so schlecht und widerlich, dass das nicht sehr viel heißt.«
»Ich glaube solchen Unsinn nicht. Nicht von jemandem, den Alice großgezogen hat.«
»Hatten wir nicht auch kostbare Gespräche?«, fragte Estelle.
»Gönnt doch einem sterbenden Mann sein Jammerreden!«
Carla schaute sich Grymondes Gesicht genau an; es war nur wenige Zoll von ihrem entfernt. Sein seltsamer Hefegeruch drang ihr immer wieder in die Nase. Der Schweiß rann ihm über die Stirn, lief in die Kerben in seinen Augenhöhlen und triefte dann herunter. Tropfen rollten ihm bei jedem Schritt über die Wangen. Carla erinnerte sich an die wilden braunen Augen, die sie aus einer Laune heraus verschont hatten. Aus mehr als einer Laune. Ihr Kind warin seine Mörderhände geboren worden. Die braunen Augen waren fort, und die Mörderhände trugen sie beide durch eine Nacht, die schwärzer war, als es irgendjemand je erlebt hatte. Sie verstand diese Geschichte nicht; denn eine andere, nicht erzählte Geschichte lag ihr zugrunde; eines Tages würde sie sie verstehen. Die Geschichten ruhten in ihr.
»Was meint er?«, fragte Estelle über Grymondes Kopf hinweg.
»Er meint, dass er übertreibt, damit er unsere guten Ratschläge missachten kann.«
»Nun gut, ich gebe auf. Ihr habt beide recht. Ich habe die Ratschläge meiner Mutter nicht befolgt, obwohl ich sie gehört habe. Und deine Worte, La Rossa, waren die Kronjuwelen meines Königreiches.«
»Wirklich?«, fragte Estelle.
Carla schaute in ihr wildes kleines Gesicht hinauf.
»Ich erinnere mich an jedes Wort, das du gesprochen hast, denn ich habe sie mir in mancher finsteren Nacht in Gedanken immer wieder angehört wie Musik, und auch an manchem sonnigen Tag, und der Tag und die Nacht wurden dadurch heller.«
»Ich erinnere mich auch an sie«, sagte Estelle. »Aber ich wette, dass du dich nicht an jedes einzelne erinnern kannst.«
Grymonde fletschte die Zähne, und Carla nahm an, das sollte ein Lächeln sein.
»Genau wie die Großmutter.«
Carla sagte: »Du willst also immer noch nicht sagen, was du weißt.«
»Ich weiß, was wir jetzt haben, sie und ich. Wir wollen nicht, dass aus unseren Flügeln normale Arme und Beine werden. Eines Tages vielleicht, aber das überlasse ich deinem Ermessen. Wenn du es dann für mich machen könntest?«
Carla unterdrückte ein Schluchzen. Sie nickte. Er konnte es nicht sehen, aber er fühlte es.
»Carla, warum sagt er nicht, was er meint?«
»Er sagt, was er meint. Ich erkläre es dir, wenn wir zu Hause sind. Wenn du älter bist.«
Estelle dachte darüber nach.
»Heißt das, dass Zuhause sehr, sehr weit weg ist?«
Grymonde lachte. Carla lachte auch. Der Schmerz zwang sie beide zum Aufhören.
»Es ist weit, aber so weit nun auch wieder nicht«, antwortete Carla. »Ich freue mich, dass du mitkommst.«
»Tannser hat gesagt, ich dürfte Amparo nach Hause tragen.«
»Das hast du schon getan«, meinte Carla. »Und du wirst sie noch weiter tragen.«
»Die Nachtigall hat uns gerettet, wenn man es recht bedenkt«, sagte Grymonde.
Carla dachte darüber nach. Es stimmte in vielerlei Hinsicht. Sie fragte sich, ob Grymonde sie getötet hätte, wenn sie nicht schwanger gewesen wäre. Sie fragte sich, ob er das meinte. Sie fragte ihn nicht.
Pascale tauchte aus dem Dunkel auf.
»Die Miliz ist zwischen den Häusern durchgekommen. Wir kürzen über den Markt ab.«
Carla schaute auf den großen, kopfsteingepflasterten Platz. Man würde sie dort sehr gut sehen können.
»Es ist kürzer, auf das Licht beim Stall zuzugehen«, sagte Pascale. »Und wir sind beinahe da.«
Sie winkte Hugon auf einen Lichtschein zu, und der schien das für eine gute Idee zu halten. Estelle drehte Grymonde irgendwie so, dass er dem Jungen folgte, und sie traten auf die hellen Pflastersteine hinaus.
Pascale hüpfte neben ihnen her, ließ die Augen durch das Dunkel huschen wie eine Wildkatze: ängstlich, quicklebendig, entschlossen, die Nacht zu überdauern.
»Die Karten, weißt du«, sagte Grymonde. »Meine Mutter hat immer gesagt, dass es Unglück bringt, die Karten anzuschauen, die jemand anders gezogen hat, denn man weiß nicht, was man anschaut, und man liest nur seine eigene
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