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Die Börse (German Edition)

Die Börse (German Edition)

Titel: Die Börse (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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während er wie ein junges Mädchen errötete, bat er Fräulein Leseigneur, die ihm öffnete, um das Porträt des Barons von Rouville.
    »Aber kommen Sie doch herein«, sagte Adelaide, die ihn jedenfalls aus seinem Atelier herunterkommen gehört hatte.
    Der Maler folgte ihr schüchtern, verwirrt und ohne zu wissen, was er sagen sollte, so sehr hatte ihn sein Glücksgefühl überwältigt. Adelaide zu sehen und das Rauschen ihres Kleides zu hören, nachdem er sich den ganzen Vormittag gesehnt hatte, bei ihr sein zu dürfen, nachdem er hundertmal aufgesprungen war und sich gesagt hatte: »Ich gehe hinunter« und doch nicht gegangen war, das bedeutete für ihn ein so reiches Hinströmen von Leben, daß er, wenn solche Erregungen allzulange gedauert hätten, geistig Schaden genommen hätte. Das Herz besitzt die eigenartige Fähigkeit, auch den unbedeutendsten Dingen den größten Wert beizulegen. Welche Freude empfindet nicht ein Reisender, dem es gelingt, einen Grashalm, eine unbekannte Pflanze zu pflücken, wenn er auf der Suche danach sein Leben gewagt hat! So steht es auch mit diesen Nichtigkeiten bei der Liebe. Die alte Dame befand sich nicht im Salon. Da das junge Mädchen mit dem Maler allein war, so holte sie einen Stuhl, um das Porträt herunterzunehmen; weil sie aber sah, daß sie es nicht losmachen konnte, ohne auf die Kommode zu steigen, so wandte sie sich an Hippolyte und sagte errötend: »Ich bin nicht groß genug. Wollen Sie es nicht herabnehmen?«
    Ein Gefühl der Scham, das im Ausdruck ihres Gesichts und im Klange ihrer Stimme deutlich wurde, war der wahre Grund für ihre Frage, und der junge Mann, der sie wohl verstand, warf ihr einen verständnisvollen Blick zu, in dem sich die zärtlichste Liebe aussprach. Adelaide, die empfand, daß er sie verstanden hatte, schlug die Augen mit einer stolzen Bewegung nieder, die ein Geheimnis jungfräulicher Wesen ist. Da er nichts zu sagen wußte und fast ganz verschüchtert war, nahm der Maler das Bild, prüfte es, ans Fenster tretend, eingehend und entfernte sich, ohne daß er Fräulein Leseigneur etwas anderes zu sagen vermochte, als: »Ich werde es Ihnen bald wiederbringen.« Während dieses flüchtigen Moments empfanden beide die tiefe Erregung, deren Eindruck auf die Seele sich mit der Wirkung eines in einen See geworfenen Steines vergleichen läßt. Die süßesten Empfindungen entstehen und folgen unmerklich aufeinander, vervielfacht, ohne Ziel, und bewegen das Herz, wie die kreisrunde Bewegung, die von dem Punkte, wo der Stein hinabgesunken ist, ausgeht, lange Zeit die Welle schwanken macht. Bewaffnet mit dem Porträt kehrte Hippolyte in sein Atelier zurück. Auf der Staffelei war schon eine Leinwand zurechtgestellt, die Farben auf der Palette gemischt, die Pinsel gereinigt, der Platz und das Licht gewählt. So arbeitete er bis zur Dinerstunde an dem Porträt mit dem Eifer, den die Künstler ihren Liebhabereien zuwenden. An demselben Abend erschien er wieder bei der Baronin von Rouville und blieb von neun bis elf Uhr. Abgesehen von verschiedenen Gegenständen der Unterhaltung, glich dieser Abend ganz genau dem vorhergegangenen. Die beiden alten Herren erschienen zur gleichen Stunde, dieselbe Partie Pikett wurde gespielt, dieselben Redensarten beim Spiel gewechselt, und die von Adelaides Freund verlorene Summe war ebenso beträchtlich, wie die am Abend vorher; nur Hippolyte, ein wenig kühner geworden, wagte es, sich mit dem jungen Mädchen zu unterhalten.
    So verflossen acht Tage, während deren die Empfindungen des Malers und Adelaides alle die köstlichen, langsam sich entwickelnden Veränderungen erfuhren, die die Gemüter zu vollem Einverständnis zusammenführen. Und so wurde von Tag zu Tag Adelaides Blick, mit dem sie ihren Freund empfing, herzlicher, vertrauensvoller, heiterer und freier, ihre Stimme und ihr Wesen anschmiegsamer und vertraulicher. Schinner wollte das Pikettspiel lernen. Als unwissender Neuling machte er natürlich Fehler über Fehler und verlor, wie der alte Herr, fast alle Partien. Ohne sich ihre Liebe gestanden zu haben, wußten die beiden Liebenden doch, daß sie einander gehörten. Beide lachten, plauderten, teilten sich ihre Gedanken mit und redeten von sich selbst mit der Naivetät zweier Kinder, die im Verlaufe eines Tages so bekannt miteinander geworden sind, als ob sie sich schon seit drei Jahren gesehen hätten. Hippolyte gefiel sich darin, seine Macht gegenüber seiner furchtsamen Geliebten geltend zu machen. Adelaide gab

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