Die Börse (German Edition)
ausgeliefert. Als er einige Stufen hinabgegangen war, drehte er wieder um und kehrte zurück, um seine Börse zu holen, die er vergessen hatte.
»Habe ich meine Börse hier liegen lassen?« sagte er zu dem jungen Mädchen.
»Nein«, antwortete sie und wurde rot.
»Ich glaubte, ich hätte sie dort hingelegt«, fuhr er fort und zeigte auf den Spieltisch. Er schämte sich für Adelaide und die Baronin, daß er sie nicht mehr dort sah, blickte sie mit so fassungsloser Miene an, daß sie lachten, erblaßte und sagte, indem er seine Weste befühlte: »Ich habe mich geirrt, ich werde sie gewiß bei mir haben.«
In der einen Hälfte der Börse befanden sich fünfzehn Louisdors, in der andern einiges Kleingeld. Der Diebstahl war so handgreiflich und mit so kecker Stirn abgeleugnet, daß Hippolyte keine Zweifel mehr über die Moral seiner Nachbarinnen hatte; er blieb auf der Treppe stehen und konnte nur mit Mühe weiter gehen: seine Beine zitterten, es schwindelte ihm, kalter Schweiß brach ihm aus, und er konnte kaum vorwärts, in bitterster Aufregung über das Zusammenbrechen aller seiner Hoffnungen. Jetzt tauchten in seiner Erinnerung eine Menge scheinbar unerheblicher Beobachtungen auf, die nun aber seinen schrecklichen Verdacht bestärkten und die, indem sie die Wahrheit des zuletzt Geschehenen bewiesen, ihm die Augen über den Charakter und das Leben der beiden Frauen öffneten. Hatten sie etwa erst die Übergabe des Porträts abgewartet, um ihm dann seine Börse zu stehlen? So überlegt, erschien der Diebstahl noch abscheulicher. Zu seinem Unglück erinnerte sich der Maler, daß seit zwei oder drei Abenden Adelaide, während sie scheinbar mit der Neugierde eines jungen Mädchens die eigenartige Arbeit des abgenutzten Netzwerks untersucht hatte, wahrscheinlich feststellte, wieviel Geld in der Börse war, indem sie mit gespielter Unschuld darüber scherzte und nur den geeigneten Moment erspähen wollte, wo die Summe, die sie enthielt, groß genug war, um die Unterschlagung zu lohnen. ›Der alte Admiral hat wahrscheinlich genügend gute Gründe, um Adelaide nicht zu heiraten, deshalb wird die Baronin versucht haben, mich...‹ Bei dieser Erwägung stand er still und brachte den Gedanken nicht zu Ende, denn dieser wurde durch das sehr vernünftige Räsonnement widerlegt: »Wenn die Baronin mich mit ihrer Tochter hätte verheiraten wollen, dann würden sie mich doch nicht bestohlen haben.« Dann suchte er, um nicht auf jede Illusion über seine schon so stark erschütterte Liebe verzichten zu müssen, nach einer Rechtfertigung durch irgendeinen Zufall. »Die Börse wird auf die Erde gefallen sein,« sagte er sich, »sie wird auf meinem Stuhl liegen geblieben sein. Oder vielleicht habe ich sie bei mir, ich bin ja so zerstreut!« Eiligst durchsuchte er alle Taschen, aber die verdammte Börse wollte sich nicht finden. Seine Erinnerung zeigte ihm mit grausamer Schärfe die fatale Wahrheit. Deutlich sah er die Börse auf dem Tische liegen; und da er nun nicht länger an dem Diebstahl zweifeln konnte, so versuchte er, Adelaide zu entschuldigen, indem er sich sagte, daß man über unglückliche Menschen nicht so schnell den Stab brechen dürfe. Sicherlich müsse hinter dieser anscheinend so niedrigen Tat irgendein Geheimnis stecken. Er wollte nicht zugeben, daß dieses stolze, edle Antlitz lügen könne. Trotzdem erschien ihm jetzt die elende Wohnung von dem poetischen Zauber der Liebe, der alles verschönert, entblößt: er sah sie vor sich, schmutzig und abgenutzt, und sie erschien ihm als das Sinnbild eines häuslichen Lebens, das ohne jede Vornehmheit, untätig und lasterhaft war. Drückt sich unser Empfinden nicht gewissermaßen den Dingen auf, die uns umgeben? Am nächsten Morgen erhob er sich, ohne ein Auge geschlossen zu haben. Sein Seelenschmerz, dieses schwere geistige Leiden, hatte furchtbare Fortschritte gemacht. Ein erträumtes Glück verlieren, auf alle Zukunftshoffnungen verzichten müssen, darunter leidet man schwerer als unter dem Zurückdenken an ein zerstörtes Glück, wie vollkommen es auch gewesen sein mag: denn bedeutet die Hoffnung nicht mehr als die Erinnerung? Das Nachdenken, in das unsre Seele plötzlich versinkt, ist dann wie ein uferloses Meer, in dem wir wohl eine Weile schwimmen können, in dem aber unsere Liebe untergeht und ertrinkt. Und das ist ein furchtbarer Tod. Sind diese Empfindungen nicht der köstlichste Teil unseres Lebens? Ihre Vernichtung führt bei manchen zarten wie bei manchen
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