Die Bogenschützin: Roman (German Edition)
Gesicht betrachtete und darauf wartete, dass er erwachte, erkannte sie allerdings, dass ihre Schwarzseherei und ihr Grusel vor dem verödeten Dorf ihren Ursprung in ihrer Erinnerung haben mochten. Allzu sehr ähnelte der kranke Wilkin in dieser einsamen Gegend dem sterbenden Richard im Wald. Wilkins Husten brachte ihr das Leid zurück, das sie gefühlt hatte, als sie seinen leiblichen Vater hatte begraben müssen. Einmal mehr ging ihr die Frage durch den Sinn, ob sie ihrem Gatten hätte erzählen sollen, wessen Sohn er in Wahrheit war. Sie hatte es aufschieben wollen, bis sie ihn besser kannte. Inzwischen bekam sie jedoch immer stärker den Eindruck, dass sie ihn damit nur belasten würde. Sein Ehrgefühl hätte von ihm verlangt, das Geheimnis zu offenbaren. Doch selbst wenn er sich zu der Entscheidung durchringen würde zu schweigen, hätte er vermutlich mit der Schande einer unehelichen Geburt nicht gut leben können. Für ihn hätte diese dunkle Wahrheit Hans von Torgau gewissermaßen das Recht gegeben, ihn zu hassen und zu schmähen. Er zog Kraft aus dem ungerechten Verhalten seines vermeintlichen Vaters.
Nein, sie wollte die Wahrheit noch eine Weile für sich behalten. Vielleicht konnte sie es ihm später einmal erzählen, wenn Hans von Torgau alt oder tot war und keine Rolle mehr spielte.
Falls es dieses » Später« noch geben würde. Sorgenvoll beobachtete sie, ob sich seine Brust hob und senkte. Seit Thomas’ Tod prüfte sie immer wieder, ob Wilkin noch am Leben war. Als er schließlich die Augen aufschlug, war sie unendlich erleichtert, obwohl es bei seinem Zustand wenig bedeutete.
» Ich muss dir etwas sagen«, flüsterte er.
Es lief ihr kalt den Rücken herunter. Sie würde es nicht ertragen können, von ihm etwas zu hören, das klang wie das Geständnis eines Sterbenden. Dennoch war sie es ihm schuldig zuzuhören. Widerwillig, aber gehorsam neigte sie sich ihm zu.
» Es tut mir leid. Ich habe Fehler gemacht. Wir hätten auf dem geraden Weg bleiben sollen. Ich hätte dich nicht in diese Gefahr bringen dürfen.«
Hedwig berührte mit dem Finger seine Lippen, um ihn zum Schweigen zu bringen. » Du hast es gut gemeint. Niemand konnte wissen, was…«
» Hör mir zu. Du musst etwas wissen, wenn… Du musst etwas für mich tun, wenn ich sterbe. Ich hätte…«
Hedwig sprang auf und schüttelte den Kopf. » Ich will das nicht hören. Du wirst nicht sterben. Du bist jung und stark und wirst dieses verdammte Fieber überleben. Ich werde für Feuer sorgen, für Suppe und Fleisch, für Kräutersud, für alles, was du brauchst. Wir werden hierbleiben, bis du gesund bist. Es gibt keinen Grund, vom Sterben zu sprechen.«
Er streckte die Hand nach ihr aus, um sie zurückzuholen. » Hedwig«, flüsterte er, wie auch sein Vater es getan hätte: mahnend, bittend und trotz seiner Schwäche ein wenig verärgert. Durch das Flüstern unterschieden sich die beiden nicht einmal mehr im Klang der Stimme.
Irina trat zu ihr und legte ihr sanft eine Hand auf den Rücken. » Hör ihm zu, Hedwig.«
» Nein.« Abrupt drehte Hedwig sich um und verließ mit langen Schritten das Haus. Richard hatte sie nicht zu seinem Sohn geschickt, und sie hatte diesen Sohn nicht gefunden, damit sie ihm nun ebenfalls beim Sterben zusah. Sie stapfte durch die flachen Schneewehen und den leichten Schneefall zu dem bewohnten Haus, das dem ihren gegenüberstand, und pochte an die Tür.
Auch hier zeugten schöne Schnitzereien und durchbrochene Leisten am Vordach davon, dass das Gebäude einst mit Liebe und Geschick errichtet worden war. Abermals fragte sie sich, warum die Leute fortgegangen waren.
Borbála öffnete ihr die Tür, in der Hand ein langes Messer. Hinter ihr meckerten drei Ziegen, die zu erwarten schienen, dass jemand Futter brachte, wenn die Tür sich öffnete. Sie besaßen einen Verschlag in der Ecke des Hauses, in einer anderen war ein Ziegenbock an einem Strick angebunden, was den Gestank in der Behausung endgültig erklärte. Die Bewohner des Hauses schienen ihn nicht wahrzunehmen, sie saßen auffallend ruhig zusammen, als wären sie alle erschöpft. Nur ein verkrüppelter Junge, dessen rechter Arm wie verdorrt aussah, zeigte leise Neugier auf die Besucherin.
Es dauerte lange, bis Hedwig Bori mit einem Mienenspiel und Gesten, die kein Gaukler hätte übertriebener ausführen können, verständlich gemacht hatte, dass sie Kräuter für fiebersenkenden und hustenstillenden Sud brauchte. Bori sagte es einer alten Frau, die beim
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