Die Bogenschützin: Roman (German Edition)
Herd saß und so gebrechlich wirkte wie eine Hundertjährige. Die Alte holte ein Säckchen, das an einem Dachbalken gehangen hatte, und zog kleinere Beutel daraus hervor. Einzeln öffnete sie sie, roch am Inhalt und reichte schließlich drei von ihnen Hedwig. Hedwig bat auch um Essen, doch da zeigte Bori ihr ihre leeren Hände und zuckte mit den Schultern, sogar dann noch, als Hedwig ihr klargemacht hatte, dass sie dafür bezahlen wollte.
Da Hedwig sah, in welcher Gemeinschaft Bori lebte, konnte sie sich vorstellen, warum sie keine Nahrung hergeben wollte. Es schien, als seien nur die Steinalten und die kränklichen Halbwüchsigen im Dorf zurückgeblieben. Vermutlich war Bori diejenige, die für diese Leute sorgte. Hedwig dachte an ihr eigenes Haus voller Kranker und hätte Bori gern die Hand gereicht, doch das hätte diese vermutlich nicht verstanden. » Ich gehe jagen. Und wir teilen«, sagte sie daher und schoss mit einem unsichtbaren Bogen einen unsichtbaren Hasen.
Bori sah sie überrascht und zweifelnd an. » Jagen? Auch ich kann jagen«, sagte sie auf deutsch.
Ein Pochen an der Tür unterbrach ihr Gespräch. Hüx kam herein und schüttelte den Schnee aus seinem roten Haar. » Ist alles in Ordnung, edle Frau? Ich wollte nach den Pferden sehen und nach Heu und war ein wenig in Sorge, weil Ihr…« Sein Blick fiel auf Bori, die er zum ersten Mal ohne ihre winterliche Vermummung sah.
Die Bäuerin war stattlich– in Hedwigs Alter, aber größer und breitschultriger als diese, auf Augenhöhe mit ihrem jungen Stallknecht. Ihr glänzendes, dickes schwarzes Haar trug sie in zwei lange Zöpfe geflochten, und obwohl sie nicht besser roch als am Vortag, schien sie nicht sonderlich schmutzig zu sein. Ihr Gesicht war breit, gebräunt und ebenmäßig genug, um reizvoll zu sein. Ob es daran lag oder an ihren üppigen Brüsten, vermochte Hedwig nicht zu deuten, jedenfalls war Hüx so von Bori angetan, dass es ihm offensichtlich die Sprache verschlug. Gebannt starrte er sie an, und Bori blickte zu Hedwigs Belustigung stolz zurück, ohne mit der Wimper zu zucken.
» Es ist alles in Ordnung, Hüx. Ich werde bald mit Bori auf die Jagd gehen, damit wir Fleisch in die Suppe bekommen. So lange musst du hier auf alles achtgeben. Wir haben viele Schutzbedürftige hier und wenige, die sie zu schützen in der Lage sind.«
Nach ihrer Rückkehr in das Haus mit der geschnitzten Rose setzte sie schweigend den Sud für die Kranken auf.
Missbilligend sah Irina sie an. » Wie kannst du so von ihm gehen? Er ist sterbenskrank und sorgt sich dabei noch um dich, und du rennst einfach weg. Bist du so hartherzig?«, wisperte sie.
Hedwig sah ihr trotzig in die Augen. » Ich will nicht, dass er mit dem Leben abschließt.«
Irina zog unwillig die Brauen zusammen. » Willst du das aus Liebe zu ihm oder aus Liebe zu dir selbst? Liebtest du ihn wirklich, würdest du…«
» Hedwig«, sagte Wilkin von seinem Lager aus, und diesmal flüsterte er nicht, sondern er befahl, wenn auch heiser.
Sie zögerte nicht zu gehorchen, so viel hatte Irina mit ihren Worten bewirkt. Zärtlich küsste sie ihrem Gatten die Wange, als sie sich neben ihn setzte. » Du musst bei mir bleiben«, hauchte sie ihm ins Ohr. » Versteh das. Ich kann dich nicht verlieren. Nicht auch dich noch.«
Er lächelte schwach, das erste Lächeln, das sie von ihm sah, seit sie vom geraden Weg abgewichen waren. » Ich werde deinen Sud trinken und schlafen, und es wird sicher wieder gut werden, mein Engel. Dennoch muss ich dir etwas sagen. Ich hätte es längst tun sollen. Friedrich hat mir Geld für König Sigismund mitgegeben, das er unbedingt erhalten muss. Es ist in meinen Satteltaschen. Bring es dem König, wenn ich es nicht kann. Aber schweig darüber. Man kann niemandem trauen, wenn es um Reichtümer geht.«
Auf einmal ergab ihre Reise für Hedwig einen anderen Sinn. Obwohl sie nicht glaubte, dass es für sie viel verändert hätte, wenn sie früher von dem gefährlichen Botendienst gewusst hätte, fühlte sie sich ein wenig betrogen. Nacht für Nacht hatte sie mit ihrem Gatten das Innigste geteilt, was sie sich vorstellen konnte, und die ganze Zeit über hatte er, den sie für so ehrlich hielt, dieses Geheimnis vor ihr gehütet. Womöglich hätte sie niemals davon erfahren, wenn unterwegs nichts vorgefallen wäre, und sie fragte sich, wie viele Dinge er noch vor ihr verbarg.
Doch dann fiel ihr ein, dass gerade sie kein Recht hatte, so zu empfinden, da sie selbst Geheimnisse vor
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