Die Bogenschützin: Roman (German Edition)
auferlegten, weil sie die Grenzen ihres eigenen Standes hinnahmen, ohne sie zu hinterfragen. Mit den Hussiten vor Augen, bei denen sich diese Grenzen stark verwischt hatten und die er gerade deshalb für so erfolgreich hielt, kam er zu dem Schluss, dass auf diese Art gewaltige Kräfte vergeudet wurden.
Vier Wochen nach Beginn der Belagerung, zwei Tage nachdem das letzte Rind geschlachtet worden war, welches Cord und seine Männer in die Stadt getrieben hatten, kam Bewegung in die Belagerer. Da keine Nachrichten von außen zu ihnen drangen, wussten die Verteidiger nicht, was genau vor sich ging. Doch alle Beobachtungen wiesen darauf hin, dass die Hussiten sich einem herannahenden Gegner zuwandten.
Das Entsatzheer musste heranmarschieren. Aufregung und erster Jubel breiteten sich in Aussig aus. Cord lauerte auf der Mauer auf den richtigen Moment für einen großen Ausfall, mit dem die Verteidiger ihre Retter unterstützen konnten, doch noch schienen die Belagerer nicht ernstlich unter Druck zu stehen.
Hoffnung und Freude legten sich im Laufe des Tages, während die Hussiten triumphierend die Leichname erschlagener sächsischer und meißnischer Ritter in Sichtweite der Stadt schleiften, um sie dort zu enthaupten und die Häupter auf Pfähle zu stecken.
So grausam diese Geste wirkte, so klug und wirkungsvoll war sie auch. Statt einen selbstmörderischen Ausfall vorzubereiten, begannen die Eingeschlossenen langsam, sich mit ihrer bevorstehenden Niederlage auseinanderzusetzen.
Eine große Gruppe von deutschen Bürgern und die Ritter und Waffenknechte, die die Stadt verteidigt hatten, sahen mit dem Fall der Stadt dem sicheren Tod oder zumindest furchtbaren Qualen entgegen.
Auch Cord nahm für seine Männer und sich das Schlimmste an. Daher schlug er am Abend denen, die sich am heftigsten bedroht fühlten, eine gemeinsam organisierte Flucht vor.
Im Dunkel der Nacht schlüpften sie in Richtung Elbe aus der Stadt, fochten sich den Weg zum Ufer frei und eroberten die vor Anker liegenden Schiffe. Einige der Flüchtenden setzten schräg über den Fluss, weil sie hoffen durften, beim Herren der Burg Schreckenstein Schutz zu finden, die auf den Uferfelsen auf der gegenüberliegenden Seite thronte. Der Rest wollte den hussitischen Belagerungsringen in der Dunkelheit mit den Schiffen stromabwärts entkommen.
Cord entschied sich für sich und diejenigen, die ihm folgen wollten, gegen beide Möglichkeiten. Nicht nur, dass der Burgherr von Schreckenstein ihm höchst zuwider war, weil man ihm nachsagte, seine Tochter hätte sich von den Felsen gestürzt, nachdem er ihren Geliebten im Burgturm hatte verhungern lassen. Cord wollte außerdem sehen, ob es Sinn hatte, noch zu dem Entsatzheer zu stoßen. Um den zurückgebliebenen Bewohnern der Stadt zu helfen, hätte er sich ohne zu zögern in die Schlacht geworfen.
Während also die besetzten Schiffe im Mondlicht schnell in die Strömung der Elbe glitten und hoffentlich ihren Weg in sichere meißnische Lande nahmen, jagte Cord mit Dieter und siebzehn weiteren kampfeslustigen Männern in halsbrecherischer Geschwindigkeit zwischen den Hussiten hindurch.
Der Ausbruch wurde ihnen leichter gemacht, als Cord vermutet hatte, denn viele der Belagerer waren offensichtlich zu beschäftigt damit, ihren Sieg über das katholische Heer zu feiern. Sie bemerkten nicht schnell genug, dass sie noch einen weiteren Fang hätten machen können.
Wie gründlich die Hussiten gesiegt hatten, wurde Cord und seinen Männern immer deutlicher, je weiter sie nach Norden vordrangen, von wo das Heer gekommen war, das sie hätte retten sollen.
Als sie auf die ersten Leichname der Schlacht stießen, hatte der Mond sich eben vor Trauer und Scham hinter düsteren Wolken versteckt, was sie zwang, langsam zu reiten.
Auf der Ebene vor ihnen bewegten sich kleine Gruppen von Menschen mit Fackeln, Menschen, die ihre Toten suchten, die den qualvoll Sterbenden das Ende erleichtern wollten oder die auf herrenlose Waffen, noch nicht geleerte Taschen oder brauchbare Kleidungsstücke aus waren. Schweigend und ohne innezuhalten, führte Cord seine Männer über das grauenhafte Schlachtfeld. Die Erschlagenen zu zählen wäre ein Unterfangen gewesen, das einen Tag lang gedauert hätte, schien es ihm. Noch mehr, als der Mond wieder hervorkam und ihm zeigte, dass auch in größerer Ferne keine Feuer oder Schemen auf Überlebende der katholischen Seite hindeuteten. Das Entsatzheer, wie groß es auch immer gewesen sein mochte, war
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