Die Botschaft Der Novizin
Tür.
»Solange du nicht die zeitlichen Gelübde abgelegt hast, wirst du bei deinem weltlichen Namen genannt, Isabella«, fuhr die Äbtissin fort. »Du wirst von der Priorin, Suor Artella, in die Pflichten einer Dienerin des Herrn eingewiesen werden – zusammen mit der Novizin Julia Contarini. Um deine Hoffart zu mildern und die Gedanken an das Leben vor den Mauern diesesKlosters durch ein wenig Arbeit aus deinem Kopf zu verbannen, wirst du als Educanda bis zu deiner öffentlichen Einkleidung zwei Aufgaben übernehmen: Einmal benötigt Suor Maria in der Küche eine weitere Hand, und für die Sauberkeit im Chorraum und in den Gängen des Zellentrakts wirst du Suor Ilaria ersetzen, die ebenfalls nach Torcello gegangen ist. Suor Maria wird dich instruieren. Halte dich an die Regeln dieses Hauses, dann wirst du ein erfülltes Leben finden, Kind.«
Die Äbtissin senkte den Kopf und begann wieder in ihrem Brief zu lesen. Unschlüssig stand Isabella vor dem Schreibtisch und wartete auf weitere Anweisungen. Als Suor Immacolata jedoch keine Anstalten machte, sie anzusprechen, fühlte sie sich entlassen, knickste und wollte sich eben umdrehen, als die Äbtissin sie anfauchte. »Isabella!« Sie fuhr herum und blickte in ein Gesicht, aus dem alle Freundlichkeit gewichen war. »Wir stehen im Dienst einer höheren Aufgabe. Unbedingter Gehorsam ist keine Tugend, die man nachlässig übergehen kann, wenn man sich unbeobachtet fühlt. Gehorsam ist die unabdingbare Voraussetzung dafür, dass wir die in uns gestellten Erwartungen erfüllen und die uns übertragene Aufgabe durch die Jahrhunderte tragen können.« Suor Immacolata hatte sich in Rage geredet. »Ich habe dich nicht entlassen, folglich hast du nicht das Recht, dich aus dem Zimmer zu begeben!«
»Entschuldigt!«, murmelte Isabella und knickste tief. Sie war so erschrocken über diesen Stimmungswandel der Äbtissin, dass sie sich verkrampfte und schief stand. So wartete sie, bis die Äbtissin einen langen Seufzer ausstieß und sie nach draußen winkte.
»Geh jetzt. Suor Artella wird dich holen lassen.«
Isabella lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür, als diese hinter ihr ins Schloss gefallen war. Vom Priorat aus hatte man einen Blick auf den Kirchturm von San Lorenzo, der Klosterkirche – und die Uhr, die ihren Stundenzeiger über das Zifferblatt schob, hatte sich kaum bewegt. Er stand noch immer aufacht Uhr. Obwohl sie selbst das Gefühl gehabt hatte, eine halbe Stunde vor der Äbtissin gestanden zu haben, konnten es kaum mehr als fünf Minuten gewesen sein.
Jetzt, aus der übermächtigen Bedrückung des Zimmers und Suor Immacolatas Stimmung herausgelöst, stieg die Frage wieder in ihrem Kopf nach oben: Warum hatte die Äbtissin sie belogen? In ihrer Hand raschelte das Papier. Der Brief der Tante. Sie würde ihn später lesen. Jetzt hatte sie anderes vor. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass Suor Maria fehlte. Hatte sie nicht warten sollen? In Isabella keimte sofort ein Gedanke: Sie musste noch einmal in die Kapelle.
Sie hatte sich den ungefähren Weg gemerkt. So schnell es ihr möglich war, ohne unschickliche Eile an den Tag zu legen, lief sie los. Die Türen dieses Stockwerks waren alle mit Klinken versehen. Dann ging es ein Stockwerk hinab – und tatsächlich fand sie rasch den Gang der fehlenden Türgriffe, und kurze Zeit später stand sie vor der Kapelle. Sie zögerte, bevor sie den Griff herabdrückte. Die Kapellentür schwang langsam auf und gab den Blick frei ins Innere des Bethauses. Der Sarg stand noch immer aufgebahrt, und die Tante lag darin, als wehre sie sich gegen dieses Behältnis.
»Was ist geschehen, Tante?«, flüsterte Isabella, nachdem sie die Pforte wieder geschlossen hatte. »Warum verheimlichen sie mir Euren Tod?«
Die naheliegende Vermutung war, dass man sie nicht beunruhigen wollte. Schließlich waren Verwandte im Kloster eine Art zweite Familie und boten eine gewisse Sicherheit. Hätte sie zu früh davon erfahren, hätte Vater den Kontrakt jederzeit lösen und sie aus dem Konvent nehmen können. Das wollte man vermutlich verhindern.
»Doch was ist wirklich passiert, Tante?«, fragte sie sich nochmals. Die Leichenstarre begann sich allmählich zu lösen, und der Körper verlor seine Verkrampfung. Die Arme sackten langsam in die Kiste. Isabella betrachtete aufmerksam die rechteHand der Tante. Sie zeigte an der Innenseite schwarze Stellen, als hätte sie etwas Rußiges berührt. Allerdings nur an der rechten Hand, wie sie feststellte.
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