Die Botschaft Der Novizin
schließlich verstand sie, was der gemeint hatte.
»Padre Antonio ist kein Mörder«, sagte sie fest und setzte die fünf Wörter wie einen Damm zwischen Hoffnung und Verdacht. »Er könnte niemandem etwas antun.«
Ein röchelndes Lachen unterbrach sie, das in einen anhaltenden Husten überging. Isabella verstummte, als sie bemerkte, wie sehr der Alte um Luft rang und wie die Wangen zuerst weißlich anliefen, als würde alles Blut aus ihnen fliehen, um sich schließlich bläulich zu verfärben.
Die Äbtissin nahm ein seidenes Tuch und kühlte seine Stirn und seinen Hals mit Wasser, mehr vermochte sie nicht für ihn zu tun. Allmählich klang das würgende Keuchen ab.
»Ihr ahnt nicht ...«, versuchte er japsend einen Satz in die Welt zu entlassen, »... ahnt nicht, was Menschen ... was sie alles unternehmen würden, um in den Besitz eines Buches zu gelangen.«
»Und dieses Buch«, bestätigte Suor Immacolata, »ist einzigartig.«
»Glaubt Ihr nicht, dass noch andere Insassen des Konvents an diesem Buch interessiert sein könnten, um ihr Leben zu verändern? Suor Anna beispielsweise oder Suor Artella. Was wäre, wenn die Frauen sich zur Aufgabe gemacht hätten, das Manuskript zu finden und es für Geld oder für ihre Freiheit zu verkaufen? Jeder Drucker in Europa würde viel dafür bezahlen, es in die Hände zu bekommen.«
Die Äbtissin sah sie mit großen Augen an, als hätte sie diese Möglichkeit noch nie in Erwägung gezogen.
»Es wäre eine Katastrophe«, flüsterte sie, »wenn dieses Evangelium veröffentlicht würde.«
»Warum?« Auch Isabella senkte ihre Stimme. Doch der Alte hatte sie gehört und antwortete an Stelle der Äbtissin. Er behielt die Augen geschlossen, was auf Isabella den Eindruck machte, als spreche er in Trance, als sei er eine Art Orakel.
»Diese Schrift enthält eine Wahrheit, die das Christentum vernichten würde. Sie darf niemals in Umlauf kommen. Alle Evangelien sind von Männern geschrieben, ein paar spätere, ausgesonderte ausgenommen. Maria Magdalenas Erinnerungen gehören dazu. Um deren Verbreitung zu verhindern, hat die Kirche einen Kreuzzug gegen die Katharer geführt. Doch selbst ... selbst wenn Magdalena, wie behauptet wird, die Frau unseres Herrn Jesus Christus war, würde das an seiner ... Göttlichkeit nichts ändern.« Er hustete flach.
»Du darfst nicht weiterreden!«, sagte Suor Immacolata und tupfte die schweißnasse Stirn des Schwagers.
Doch Donato Contarini schüttelte energisch den Kopf. »Maria, die Mutter Jesu, kennt jedoch die wahren Hintergründe der Geburt des Herrn. Sie ist die Mutter – und Mütter wissen, wer sie geschwängert hat. Womöglich war es nicht der Heilige Geist, dem Jesus das Leben verdankt.« Die Stimme Donato Contarinis war immer leiser geworden, und zum Schluss hin ahnte Isabella beinahe nur noch, was er sagte. Die Ankündigung war so ungeheuerlich, dass ihr die Kehle trocken wurde.
»Was, wenn das Kind ... wir haben eine Besatzungszeit in Palästina ... die Jungfrau Maria ist schön ... ein römischer Soldat verliebt sich in sie ... oder sie hat an einer der Mysterienfeiern teilgenommen ... als Gespielin eines reichen Herrn ... es gibt so viele Möglichkeiten ... nur die Mutter kann wissen, wie sie empfangen hat ... nur die Mutter ... der Text ... er ist gefährlich ... « Donato Contarini verstummte.
»In den Räumen der Vaticana wäre die Schrift sicher und fürimmer dem Zugriff der Menschen entzogen gewesen«, ergänzte Suor Immacolata.
Isabella presste die Lippen fest aufeinander. Sie wagte es nicht, der Äbtissin in die Augen zu sehen. Hinter der Erzählung des Bibliothekars lauerte eine schreckliche Wahrheit, schrecklicher, als sie es sich eingestehen wollten.
»Deine Tante war dem Aufbewahrungsort bereits auf der Spur. Sie hatte in der Zisterne nachgesehen«, begann Suor Immaco - lata, als spüre sie Isabellas Zweifel und müsse die beseitigen, »mehrmals und unter den schwierigsten Bedingungen. Doch sie hat nichts gefunden ...«
»... außer einem Gefäß«, ergänzte Isabella. »Einem Gefäß, das jetzt zerschlagen und leer ist.«
Verblüfft richteten sich die Blicke der Alten auf sie, dann sahen sie einander an, und Donato Contarini öffnete die Augen und sah zur Decke hinauf.
»Wir glaubten uns bereits am Ziel ...«, bestätigte er Isabellas Gedanken.
»Das Manuskript wurde in einer Amphore aufbewahrt«, fuhr die Äbtissin fort. »Dies geht aus dem Fragment eines Briefes hervor, der auch dem Pater bekannt ist. Daran
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