Die Botschaft Der Novizin
brauchte man einander und war sich gegenseitig verpflichtet. Doch das galt nicht immer und nicht für alle Familien, wie sie erfahren hatte. Gerade die Contarinis waren untereinander heillos zerstritten. Und bei Krankheiten machte man ohnehin eine Ausnahme. Eine Fallsüchtige wie Julia Contarini versteckte man am liebsten. Man verstieß sie, enterbte sie, gab sie dem Vergessen in einem Kloster anheim. Vielleicht war sie auch eine Tochter des Kardinals Gasparo Contarini, der sich ihrer auf diese Weise entledigen wollte? Das würde zumindest erklären, warum ihr Pate nach einer Mitgift für sie aus war. Isabella würde es allerdings nicht mehr erfahren. Schließlich war Julia tot.
Immer wieder schossen ihr zudem die Gedanken an die zerbrochene Amphore durch den Kopf. Wo mochte sich das geheimnisvolle Manuskript verbergen, das sie gesucht hatte? Wo hatte sie sich geirrt? Waren womöglich die Edelsteine der Initialen auf den Buchseiten doch nicht der Weg zum Klosterschatz? Schließlich war es so leicht gewesen, die Botschaft zu entschlüsseln.
Isabella fand von einem Gedanken zum anderen, und während sie glaubte, sich zu verzetteln, löste sich ein Problem nach dem anderen. Welche Nonne konnte in einem Frauenkloster schon lesen? Allenfalls von der Äbtissin und der Priorin wurde ein Mindestmaß an Bildung verlangt. Die Kirche war mehr als zufrieden, wenn die Frauen ungebildet blieben. Lesen beschwerte das Gemüt, störte die Herzensruhe und führte in die Irre des Zweifels. So gesehen verwunderte es Isabella nicht, wenn sich in den letzten hundert Jahren niemand auf den Weg zum Versteck des Manuskripts gemacht hatte. Es war kein Mangel an Wissbegierde, es war ein – nicht einmal selbst verschuldetes – Unvermögen.
Außerdem gehörten, wie es den Anschein hatte, nicht alle Nonnen des Konvents den Custodes Dominae an. Es waren allenfalls ein Dutzend. Und ihr selbst war schließlich der Zufallzu Hilfe gekommen. Hatte ihre Tante sie mit dem Brief nicht geradezu gedrängt, nach dem Manuskript zu suchen? Die unsichtbare Hand Suor Francescas hatte sie geleitet.
Isabella legte einen Arm über ihre Augen. So war sie nicht abgelenkt und konnte besser denken. Alle Bilder, die sie zu der Amphore geführt hatten, hatte sie eingehend studiert, sowohl im Chorbuch als auch auf den Bildern und Skulpturen im Kloster. Der Hinweis auf den Ort, wo das geheimnisvolle Marienevangelium verborgen worden war, musste darin zu finden sein – und doch war sie fehlgegangen. Etwas hatte sie übersehen oder falsch gedeutet, so viel stand fest. In Gedanken ging sie alle Möglichkeiten noch einmal durch, systematisch, doch ständig drängte sich ihr der Spruch »Noli me tangere« dazwischen.
Der Türkenkopf sollte anzeigen, dass in diesem Konvent etwas verborgen lag. Kein anderes Bild wies so deutlich auf einen Beginn hin wie dieses. Folglich beanspruchte es den ersten Platz im Geviert der Bilder und im Text der Symbolsprache. Die Tafel mit der Lehrer-und Schüler-Szene zeigte, dass es sich um ein bedeutendes Lehrwerk handelte, das zudem von einer Frau stammte. Hier war der zweite Platz gerechtfertigt. Das dritte Bild, die Mariendarstellung mit dem Spruch, hatte sie als einzige Darstellung nur mehrmals flüchtig begutachtet. Sie erinnerte sich an ihre Gefühle beim Betrachten dieser Darstellung. Und plötzlich war sie sich sicher, dass das dritte Bild – nun, vielleicht gar nicht die Mariendarstellung im Eingang war, sondern das Delfinenzeichen. Das Kreuz, zu dem sich die Anordnung der Zeichen auf dem Plan fügte, war nämlich gleichschenklig, folglich konnte durchaus eine andere Form gemeint sein. Das Kreuzsymbol führte in die Irre. Es war zu selbstverständlich. Und dann dieses »Noli me tangere« , »Berühre mich nicht«. Es mochte so viel bedeuten wie: Nimm mich nicht als dritte Darstellung! Dann war also das Delfinenzeichen die Nummer drei im Symbolspiel.
In Gedanken begann sie die Kreuzform aufzulösen, die sie mit Suor Anna auf den Plan des Klosters gezeichnet hatte, und eine neue Form dafür zu setzen. Plötzlich bemerkte Isabella, wie falsch sie mit ihrem voreiligen Schluss gelegen hatte. Die vier Symbole zeichneten nämlich kein Kreuz, sondern – wenn man nur die Endpunkte des Kreuzes miteinander verband – einen Kreis. Der Kreis war das Zeichen der göttlichen Vollendung und – ein zutiefst weibliches Symbol. Als hätte sie jemand mit der Nadel gestochen, fuhr sie auf und setzt sich mit einem Ruck gerade hin. Die Frauen, die
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