Die Botschaft Der Novizin
»Ihr seid eine der Custodes Dominae? « Isabella schluckte trocken. Sie sah sich um und suchte nach einer Sitzgelegenheit. Doch den einzigen Stuhl im Raum hielt die Äbtissin besetzt. »Gehörte meine Tante auch ... zu den Hüterinnen, die das Manuskript schützen wollten?« Beide Male nickte die Äbtissin leicht. Siehob den Kopf und sah Isabella offen an. »Dann stimmt es doch, was mir der ... «, Isabella räusperte sich, weil sie bemerkte, wie Suor Immacolata aufhorchte, »... der Pater erzählt hat.«
»Was hat er Euch erzählt?« Der Bibliothekar sprach, ohne die Augen zu öffnen, ohne die Gesichtsmuskeln zu verziehen. Jedes Wort verursachte Isabella selbst beinahe Schmerzen, so schwer entwich es der Brust des Alten, so sehr musste er sich anstrengen. »Traut ihm nicht. Er ist aus Rom.«
»Ihn interessiert nur das Manuskript, nicht dessen Inhalt«, deutete die Äbtissin die Worte des Alten. »Niemals darf ihm die Handschrift in die Hände fallen. Es wäre der Untergang dieses Klosters. Seine Anwesenheit ist für uns Prüfung genug.« Isabella sah von einem zum anderen. Etwas stimmte mit dieser Argumentation nicht. Hatte ihr nicht der Pater von diesem Bibliothekar erzählt? Dann mussten die beiden miteinander geredet haben. Wenn sie zusammengekommen waren, konnte der Pater nur von ihm erfahren haben, was im Kloster verborgen lag.
»Ihr habt ihm von dem Manuskript erzählt, nicht wahr! Er sollte es für Euch finden, weil meine Tante es nicht geschafft hatte!« Der Satz platzte nur so aus ihr heraus.
Der Alte holte rasselnd Luft und atmete dann schwer aus. Die Äbtissin schwieg. Sie legte eine Hand auf die braunfleckigen Finger des Bibliothekars, und Isabella sah, wie sie ihm die Hand drückte. Es war kein heimlicher, kein mahnender Druck, sondern eine Bestätigung, wie man sie erfährt, wenn eine Last von der Seele genommen wird.
»Es war der Preis für Julia«, sagte Donato Contarini in die entstandene Stille hinein. »Sie sollte mit ihrer Krankheit ... versorgt werden ...«
Der Atem des Alten rasselte. Die Äbtissin drückte erneut die Hand ihres Schwagers, räusperte sich und unterbrach ihn. »Donato erinnerte sich an einen alten Freund, Hieronymus Aleander, den ehemaligen Bibliothekar der Vaticana, und dessenSpürsinn für Bücher. Er hoffte, die Kirche würde für diesen Schatz viel Geld zahlen, genug, um Julias Leben im Kloster abzusichern. Ich stimmte dem widerstrebend zu; denn ich sagte mir, das Manuskript sei für uns ohnehin verloren, wenn wir selbst es nicht mehr finden konnten. Doch Hieronymus Aleander, inzwischen Kardinal geworden, kam nicht selbst. Er schickte diesen jungen Pater.«
Isabella ahnte, welche Probleme dies bereitet hatte. Statt des zahmen Spürhunds erschien ein Wolf auf der Bildfläche und nahm die Witterung auf.
»Ihr habt dennoch entschieden, ihm Hinweise zu geben. Ihr wolltet das Geheimnis um diesen Klosterschatz lüften.« Erneut musste sie sich räuspern, weil ihre Stimmbänder belegt waren.
Die Äbtissin senkte den Blick. »Die Hybris hat uns fehlgeleitet. Doch sag selbst, Isabella: Was für einen Sinn ergibt es, wenn ein Orden ein Geheimnis bewahrt, das er selbst nicht mehr kennt? Die Jahrhunderte hatten es verschüttet. Wir wollten es nur der Zeit entreißen und dachten uns mit einer gewissen Naivität, dieser Pater, dieser römische Bibliothekar, könnte uns dabei helfen.«
Donato Contarini drehte den Kopf beiseite, und die beiden Alten sahen sich lange an.
»Wir haben es auch für Julia getan. Nicht alle Zweige der Familie Contarini sind reich. Manche Sprösslinge dürfen noch nicht einmal öffentlich zeigen, dass sie Nachwuchs gezeugt haben.« Der Büchersammler nickte ganz leicht, als hätte er der Äußerung seiner Schwägerin zugestimmt. »Doch Donato ist ihr Pate. Er hat zu ihr gehalten, auch nachdem klar geworden war, dass sie unheilbar krank ist. Allerdings besaß er die Mittel nicht mehr, die für eine lebenslange Klostermitgift gefordert werden.« Sie wischte dem Mann neben ihr erneut über die Stirn.
Am liebsten hätte Isabella jetzt die Zeit angehalten, weil dieserBlick mehr über die Zuneigung zwischen zwei Menschen verriet, als lange Gespräche es gekonnt hätten. »Wir haben uns verrechnet«, flüsterte der Alte. »Wir haben die Skrupellosigkeit des Mannes unterschätzt. In seiner Gier ist er sogar bereit, Menschenleben zu opfern.«
Isabella stutzte. Sie ließ ihren Blick zwischen der Äbtissin und dem alten Contarini hin und her wandern, und
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