Die Botschaft Der Novizin
die beiden auch einmal verlobt gewesen oder hatten eine anderweitige Beziehung gehabt. In ihrem Alter spielte das sicherlich keine große Rolle mehr. Nur die Zuneigung zwischen ihnen spürte man beinahe körperlich. Suor Immacolata jedenfalls zuckte mit keinem Gesichtsmuskel. Ungerührt fuhr sie fort, ihm die Stirn mit einem feuchten Tuch zu betupfen. »Es ist eine Ewigkeit her«, setzte er endlich hinzu.
Der Kranke wirkte erschöpft. Das spärliche Haar an der Seite klebte nass am Schädel. In unregelmäßigen Abständen zuckte ein Muskel seiner linken Wange unkontrolliert.
Etwas verlegen nickte die Äbtissin. »Als ich hörte, wie schlecht es ihm ging, musste ich zu ihm. Er ist mein einziger noch lebender Verwandter – und er stand auch in schweren Zeiten immer zu mir.«
Isabella nickte, glaubte jedoch nur die Hälfte dessen, was dieÄbtissin ihr sagte. Familienbande waren die engsten Bande, die es in Venedig gab. Lieber opferte man einen guten Geschäftskontakt, als einen Verwandten im Stich zu lassen, und sei es ein schwarzes Schaf. Nur so konnte die Serenissima Venedig überdauern. Aber das galt in erster Linie für Blutsverwandte, sicher nicht für einen angeheirateten Schwager.
»Ihr habt meine Frage nicht beantwortet«, setzte Isabella nach. »Kanntet Ihr meine Tante Francesca?«
Der Alte sah erneut zu Suor Immacolata hinüber, dann nickte er. »Nach dem Tod meiner ersten Frau wollte ich wieder heiraten. Francesca ... war damals noch nicht im Kloster. Sie gefiel mir und ich ... warb um sie. Sie sah immer aus einem der Fenster des Hauses gegenüber. So ... habe ich sie kennengelernt.« Der Alte lachte, als er sich daran erinnerte. »Doch die Familie Marosini ...«, er musste eine Pause machen und rang nach Luft, »... sie hatte sie für den geistlichen Stand bestimmt – und ich war wohl nicht hartnäckig genug mit meiner Werbung. Zwei Jahre reiste ich einem Manuskript durchs Mittelmeer hinterher, und als ich zurückkam, hatte sie bereits die Profess abgelegt.« Er schüttelte den Kopf, als könne er sein Missgeschick bis heute nicht fassen.
»Aber Ihr wart viel älter als sie«, warf Isabella ein, die nachzurechnen versuchte. Mindestens zwanzig Jahre musste der Unterschied betragen, denn seinem Äußeren nach war der Bibliothekar mindestens achtzig.
»Wenn man liebt, spielt das Alter keine Rolle, mein Kind«, flüsterte er und ließ seinen Blick auf Isabella ruhen.
»Dann ...«, Isabella räusperte sich, weil sie nur ungern aussprach, was sie dachte, doch sie musste es erfahren, »dann wart Ihr es, den sie im ›Roten Ochsen‹ regelmäßig getroffen hat?« Der Alte nickte erschöpft. »Ja. Wir haben uns geliebt.« Er schloss die Augen.
»Habt Ihr sie ... «, Isabella stockte, weil sie das, was sie dachte,
nicht aussprechen wollte. Dann drangen ihr die Worte dennochüber die Lippen, weil sie sich dort angestaut hatten wie ein wildes Wasser und sich Bahn brachen: »Habt Ihr sie getötet?« Erschöpft schüttelte der Alte den Kopf und schloss die Augen. »Ich habe erwartet, dass du das fragst, Kind.«
Langsam platzte Isabella der Kragen. »Alle haben etwas erwartet: Suor Immacolata, dass ich hier auftauche, Ihr, dass ich Euch nach dem Tod meiner Tante frage – warum denn? Ich habe nichts erwartet. Ich suche nur nach Antworten!«
Suor Immacolata, die Donato Contarini mit einem feuchten Tuch die Stirn wischte, übernahm das Gespräch.
»Nein, du bist keineswegs zufällig hierhergekommen, Isabella. du bist hier, weil ... ja, weil dich deine Tante hierhergeführt hat.«
Der Alte rührte sich nicht, als wäre er eingeschlafen, und die Äbtissin, die mit im Schoß gefalteten Händen auf einem Stuhl neben seinem Bett saß, sah sie ruhig an. Isabella verstand jetzt gar nichts mehr.
»Der Brief, erinnerst du dich? Den ich dir gegeben habe. Wir hofften, dass du ihn würdest deuten können.« Die Äbtissin lächelte schwach, dann senkte sie den Kopf. »Ich hatte deine Tante damit beauftragt, den Schatz des Klosters wiederzufinden. Seit hundert Jahren ist das Manuskript verschollen. Niemand weiß, wo es versteckt wurde. Wenn es jedoch nicht gefunden wird, warum sollte unser Orden es weiter bewachen?«
»Es würde genügen, das Kloster zu erhalten«, warf Isabella ein. »Die Schrift der Mutter Maria befindet sich irgendwo innerhalb des Gemäuers.« Sie ließ einige Zeit verstreichen, weil sie eine Antwort erwartete, doch als Suor Immacolata schwieg, konnte sie ihr Unbehagen nicht länger zurückhalten.
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