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Die Botschaft Der Novizin

Die Botschaft Der Novizin

Titel: Die Botschaft Der Novizin Kostenlos Bücher Online Lesen
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folgen hatte. Er deutete die Verkündigung neu. Während der Engel auf dem Fresko im Dunkeln stand und so keinerlei Einblick auf das Schaffen der Jungfrau Maria gewann, weil ihm Maria mit ihrem Körper gleichzeitig den Blick auf ihr Schreibpult verwehrte, wurden dem Betrachter über die Lichtführung die Augen geöffnet. Es war der Beginn der Leidensgeschichte des Herrn, und der Beginn wurde auf den Morgen des Lebens gelegt. Diesen Umstand hatten sich der Maler und der Erbauer dieses Eingangs zunutze gemacht.
    Mit ausgestrecktem Arm deutete Isabella auf die Malerei. »SehtIhr, was dort geschieht? Der Fleck ...«, sie wandte sich der Lichtöffnung zu, prüfte den Einfall und den Stand der Sonne und war sich sofort sicher: »... er wird wandern, sobald die Sonne steigt und gen Mittag geht. Während die Sonne an den Himmel steigt, läuft der Fleck nach unten weg, vermutlich so weit, wie hier die letzte Spur des bröckelnden Putzes zu sehen ist. Und zwar das Band entlang.«
    Padre Antonio neben ihr versuchte sichtlich ihrem Gedankengang zu folgen, doch Isabella scherte sich nicht darum. Hauptsache ihr selbst war klar, was sie hier sagte. »Der Sonnenfleck wandert ... das Spruchband entlang von oben nach unten. Von oben nach unten!«, betonte sie nochmals.
    Der Hebel des Öffnungsmechanismus klackte, und die Innentür schwang auf.
    »Wir müssen weiter«, drängte der Pater, doch Isabella rührte sich nicht vom Fleck.
    Lange würden sie im Vorraum nicht bleiben können, ohne aufzufallen. Isabella folgte dem Spruchband mit ihren Augen, und sie wusste, was sie die ganze Zeit über gesehen und doch übersehen hatte.
    Ein heißes Gefühl überflutete sie und kroch ihr die Wangen hoch. Es war ein Triumph, den sie sich selbst zuschrieb, und ein wenig Enttäuschung über ihre eigene Unzulänglichkeit, weil sie so lange dazu gebraucht hatte, es zu erkennen und zu begreifen. Wo hatte sie nur ihren Kopf gehabt? Der Verlauf war ihr zuletzt auf der Karte des alten Klosters begegnet. »Das Band zeigt einen Weg auf, Pater. Allerdings muss man ihn von oben nach unten gehen, weil der Lichtpunkt oben beginnt und am Band selbst hinabwandert. Versteht Ihr, das Licht folgt dem Weg. Einen Weg durchs Kloster!«
    »Aber es heißt: ›Noli me tangere!‹ Ist das nicht die Aufforderung, den Weg gerade nicht zu betreten?«, gab der Pater zu bedenken. Auch er schien von dem Gedanken fasziniert zu sein.
    Die Kreisform der vier Zeichen hatte die Aufgabe, den Wissendenauf dieses Fresko hinzuweisen. Von hier aus ging man los. In Gedanken schritt Isabella den Weg ab, lief die Gänge des alten Klosters entlang, an die sie sich nach dem Plan des Paters erinnerte, schlüpfte durch die Geheimtüren, die im alten Klosterplan nichts weiter als Durchgänge gewesen waren – und kam zu einem erstaunlichen Ergebnis. Wenn sie den Windungen und Biegungen des Spruchbands folgte, führte der so beschrittene Weg wieder aus dem Kloster hinaus. Lag das Manuskript gar nicht im Kloster selbst, sondern nur auf dem Klostergelände?
    Noch bevor sie ihren Gedankengang beenden konnte, schwang die Pforte zum Konvent auf. In der Türöffnung stand eine Nonne, wuchtig in ihrem Habit, ein Engel in Schwarz, als wolle er Unheil verkünden. Der weiße Schleier um die Stirn und das weiße Brusttuch leuchteten im Morgenlicht, das den Raum füllte, und ließ die Gesichtszüge hervortreten. Die Augen richteten sich finster auf Isabella. Die Lippen zu einem feinen Strich verpresst und die Finger ihrer vor dem Bauch gekreuzten Hände ineinander verschlungen wie der Gordische Knoten, stand Signora Artella unter dem Türsturz.
    »Pater, Ihr? Noch dazu in Begleitung dieser Person!«
    Isabella hatte genug gesehen. Sie wusste, wohin sie gehen musste. Ihr Blick und der Signora Artellas kreuzten sich, und aus den Augen der Priorin sprach eine unmissverständliche Sprache: Hass. Isabella senkte ihren Blick und fragte sich, womit sie diesen unversöhnlichen Blick verdient haben konnte. Sie wusste es nicht und wollte es auch nicht herausfinden. Jedenfalls drehte sie auf dem Fuß um, riss die Pforte nach draußen auf und sprang hinaus.
    »Haltet sie!«, hörte Isabella hinter sich rufen. Wie der Blitz rannte sie über den Vorhof der Kirche, über den Ponte di San Lorenzo und links die fondamenta hinauf. Sie achtete nicht darauf, ob ihr jemand folgte, nicht einmal, wohin sie lief. Sie wusste nur, dass sie sich nicht wieder einfangen lassen durfte.
    Am Ende der fondamenta traf sie auf einen Kanal.

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