Die Botschaft Der Novizin
verschaffte, die er nötig gehabt hätte. Seufzend beschloss er, den Sachverhalt näher zu erklären. »Die Evangelien, wie wir sie kennen, sind so genannte Kodizes, normale Bücher. Einzelbögen, beidseitig geschrieben. Diese Technik entsteht einige Jahre nach Christi Tod und bezeichnet den Beginn der christlichen Überlieferungsform. Wenn das Manuskript, nach dem wir suchen, eine Schriftrolle ist, dann heißt das, dass sie vermutlich noch zu Lebzeiten Christi oder kurz nach dessen Tod geschrieben wurde oder aber von einer Person, der diese Technik vertraut war. Was dasselbe bedeutet, nämlich eine zeitliche Nähe zu Jesus. Und damit ist die Schriftrolle alt. Sehr alt und authentisch. Sie könnte also tatsächlich von der Mutter Jesu geschrieben worden sein, wie es aus einem Brieffragment, das mir der Bibliothekar gezeigt hat, zu entnehmen war.«
Isabella starrte in die Dämmerung, als könne sie aus dem Licht des Tages die Wahrheit herauslesen wie aus einem Orakelzeichen.
»Auf einem Fresko im Chorraum«, überlegte sie laut, »überreicht eine Frau, die höchstwahrscheinlich die Gottesmutter darstellt, einer Nonne eine Schriftrolle. Auf dem Eingangsbild schreibt Maria an einem Text. Auf Papyrus, der gerollt ist. Ich ... ich bin mir ziemlich sicher.«
»Auf dem Epitaph der ersten Äbtissin deutet der Magister auf
einen äußerst androgyn gestalteten Schüler, vermutlich eineFrau, auf deren Pult gleichfalls eine Schriftrolle liegt«, ergänzte der Pater. »Geöffnet, als würde darin gelesen.«
»Der Turbanmensch, erinnert Ihr Euch an den?«, fragte Isabella, während sie nach innen schaute und eine Erinnerung aufwärmte. Was sie bislang als eine merkwürdige Art Palme betrachtet hatte, war kein Palme.
»An der Säule rankt eine Papyrusstaude empor, die sich zum Kapitell verzweigt«, antwortete der Pater, als hätte er ihre Gedanken gelesen.
»Die Pflanze findet sich überall im Kloster. Sogar um den Zisternenstein im Innenhof ranken sie sich«, ergänzte Isabella, »als würde im gesamten Kloster alles getan ...«
»... um uns auf die Papyrusrolle hinzuweisen, weil die Schrift, die verborgen wird, auf Papyrus geschrieben wurde.« Der Pater seufzte erneut lang anhaltend.
»Ihr verschweigt mir etwas«, sagte Isabella, die ihn aufmerksam beobachtete.
Padre Antonio verwünschte seine Art, Gefühle zu zeigen. Das machte ihn angreifbar. » Ich erzähle es Euch später«, wiegelte er ab. »Kommt«, fuhr er fort und raffte sich auf. »Ihr wollt das Bild über dem Eingang sehen. Ihr müsst mir sagen, was Ihr darauf erkennen könnt.«
Die Bewegung ließ erneut Schmerz durch seinen Kopf schießen. Die Sonne schien sich über seine plötzliche Entschlossenheit zu freuen, denn in dem Moment durchbrach ein gleißender Lichtfinger die Wolkendecke. Der Pater musste die Augen schließen, weil sie sonst geblendet worden wären von so viel Licht.
Isabella hakte sich bei ihm unter, und sie überquerten die Brücke bei San Lorenzo. Wenige Schritte später standen beide vor dem Tor zum Konvent. Der Pater klopfte. Isabella versteckte sich hinter dem Pater. Die Stimme der Pförtnerin klang dünn, als sie nach ihrem Begehr fragte. Der Pater antwortete barsch und herrschte sie an, dass sie ihm die Pforte zu öffnen habe undsich in ihre Loge zurückziehen müsse, während er den Konvent betrete. Die Portaria befolgte die Anweisung, und schon konnten die beiden ungehindert eintreten.
Sie standen im Vorraum mit dem Blick auf das Fresko an der Stirnseite. Die Malerei erstrahlte im Licht der Morgensonne, als wäre sie jetzt bereit, ihr Geheimnis endgültig zu lüften. »Nun«, begann der Pater und legte den Kopf in den Nacken, um besser sehen zu können. »Wir sind da. Was seht Ihr?« Der einsetzende Schmerz hätte ihm beinahe die Beine unter dem Körper weggezogen. Er hielt sich an Isabella fest, doch diese entwand sich seinem Griff und trat einen Schritt an das Fresko heran.
»Ich weiß, was es bedeutet«, sagte sie ehrfurchtsvoll. »Endlich weiß ich es.«
KAPITEL 61 Isabella folgte einfach dem Licht. Die Morgensonne drang durch eine kleine Öffnung im Osten, die ihr bis dahin nicht aufgefallen war. Der Strahl fiel schräg in den Raum und bildete direkt über dem Endpunkt des Spruchbandes einen sich nach unten verjüngenden hellen Fleck. Dort war der Putz bereits abgeblättert und hatte einen ganzen Placken Farbe mitgenommen. Die Absicht war jedoch sofort deutlich: Das Morgenlicht sollte einen Beginn andeuten, dem das Auge zu
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