Die Botschaft Der Novizin
Zitronen, Kirschen und Feigen unterschied der Geistliche mit sicherem Blick. Zwei Pforten waren auf der Wasserseite in die Mauer eingelassen, eine davon durchbrach die Grundmauer eines Turms. Ansonsten gab es auf dieser Seite kein Fenster, kein Guckloch, keinen Lichtschacht.
Zumindest ein Verdacht bestätigte sich sofort und wurde vertieft, als sie links auf die Rückseite des Areals einbogen. Fenster gab es nur wenige, und diese zumeist erst auf Höhe des zweiten Stocks. Zudem waren sie allesamt vergittert. Betreten werden konnte dieses Kloster nur vom Garten aus. Ein Wirrwarr war das, ein Konglomerat aus Gebäudeteilen, ein Flickwerk der Jahrhunderte, das keinem System zu gehorchen schien, weil die Zeit es sich zusammengestückelt hatte und es nur einem einzigen Zweck unterordnete. Erst am Ende des Wasserwegs sprang die Bebauung etwas zurück und ließ einen Landstreifen frei, der von Gebüsch überwuchert war, welches eine riesige Feige an der Mauer überragte und so den Blick auf die Mauern selbst verbarg. Die dritte Seite der Konventsgebäude, in die der Gondoliere wieder linksherum einschwenkte, bestätigte seine Überlegungen: Das hier war eine Festung, ein Bollwerk gegen die Welt. Als gelte es, etwas hinter diesen Mauern zu verbergen oder gegen die Wellen der Zeit, die seit Jahrhunderten gegen die Umfassung anbrandeten, zu verteidigen.
»Vor uns liegt der Ponte di San Lorenzo. Kennt Ihr die Geschichte, Padre?«, unterbrach der Gondoliere Padre AntoniosBetrachtungen. Der suchte nach einem Zugang von der Wasserseite, musste sich jedoch enttäuscht zugestehen, dass von dieser Seite her keine Gefahr für die Schwestern drohte. »Welche Geschichte? Erzählt!« Neugierig wandte er sich dem Gondoliere zu. »Rudert mich doch bitte an das Ufer dort. Ich möchte mir das Kloster auch von der Landseite her ansehen.« Der Mann nickte. Dann begann er zuerst von Gentile Bellinis Bild zu erzählen, das dieser im Auftrag für die Scuola di San Giovanni Evangelista gemalt habe. Die Scuola liege hier ganz in der Nähe. Sie sei berühmt und mächtig. Ein Zeichen dafür sei die Kreuzreliquie, die man dort verwahre und die jährlich in einer Prozession über die Brücken getragen werde.
»Im Menschengedränge auf dem Ponte di San Lorenzo fiel das Kreuz mit der wertvollen Reliquie im Gedränge in den Kanal und verschwand sofort. Nicht wenige Bruderschaftsmitglieder haben versucht, danach zu tauchen. Doch vergebens.« Der Gondoliere hielt am Ausstieg vor der Brücke. Er sprang an Land und befestigte die Gondel an einer der Duckdalben. Dann zog er sie mit der Hand zu sich her und drückte sie gegen die Kaimauer aus Holz. Mit weichen Knien stieg Padre Antonio aus und wäre beinahe eingeknickt, als er festen Boden unter den Füßen spürte. Doch der Bootsführer hatte das offenbar vorausgesehen und griff ihm unter die Arme.
»Wie geht’s weiter? Das Kreuz liegt immer noch am Grund des Kanals, vermute ich?«, versuchte der Geistliche den Erzählfluss wieder in Gang zu setzen.
»Dem Herrn sei’s gedankt, nein! Wo denkt Ihr hin? Dem Hochmeister der Scuola, dem Guardian Grande Andrea Vendramin, der selbst ins Wasser gestiegen ist, hat sich das Kreuz wie von selbst in die Hand gefügt und ihn vor aller Augen aus dem Wasser gehoben und aus eigener Kraft ans rettende Ufer gezogen.« Padre Antonio, aus dessen Kopf sich das Unbehagen zurückzog und einer leichten Magenverstimmung Platz machte, sah den Ruderer an. »Aus eigener Kraft, sagt Ihr?«
»Ja, Signore, es hat ein Wunder vollbracht an dem Guardian Grande.« Der Gondoliere lächelte, als sei ihm das Gerede von Wundern und ähnlichen unerklärlichen Geschehnissen unangenehm.
»Ihr seid Euch sicher, dass es sich so abgespielt hat?« Der Pater vermutete, dass noch etwas anderes hinter der Geschichte steckte. Etwas, das der Gondoliere nur ungern erzählte, weil er befürchtete, es könnte ihm zu einem Nachteil gereichen. »Wart Ihr womöglich dabei? Könnt Ihr es mit Euren eigenen Augen bezeugen?«
Der Mann schüttelte den Kopf. »Das Wunder liegt mehr als hundertfünfzig Jahre zurück. Aber in unserer Familie wird erzählt, eine Magd habe aus einem der Räume, welche zum Kanal hinauswiesen, das Geschehen beobachtet, und sie sei die Urgroßmutter aller Gondoliere meiner Familie. Nie wieder haben wir gehungert, nie wieder mussten wir betteln oder von der Armenfürsorge leben.«
»Und es hat sich hier abgespielt. Hier an dieser Brücke?« Die Frage sollte beiläufig klingen, doch dem
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