Die Botschaft Der Novizin
auffallen.
Dennoch, es blieb ihre einzige Möglichkeit. Rasch lief sie hin und drückte sich in die Nische. Die Schritte kamen näher, blieben einen Augenblick stehen, nahmen ihren Takt wieder auf. Isabella wusste jetzt ungefähr, woher der nächtliche Wächter kam. Den Gang ein Stück entlang mündete der Stichweg zum Nonnenchor. Die Person kam also von dort. Isabella würde an ihr vorbeimüssen, um zu dem Bild zu gelangen – wenn man sie nicht zuvor entdeckte, was immer wahrscheinlicher wurde. Eine Auskragung der Schnitzereien stieß ihr in den Rücken. Sie konnte sich nicht einmal ganz in die Ecke zwischen Schrank und Wand drücken. Ärgerlich drehte sie sich um. Wie ein Blitz schlug die Erkenntnis ein, wie sie die Begegnung womöglich vermeiden konnte. Sie stellte ihre Schuhe ab, griff nach der Schnitzerei und zog sich in die Höhe. Ihre Füße fanden Halt, sie drückte sich nach oben ab, und schon lag sie auf dem Schrank, von unten nicht mehr zu sehen, wenn man nicht den Kopf hob und aufmerksam nach oben spähte. Nichts knarrte oder quietschte – und es war erstaunlich sauber hier oben, keinerleiStaubmullen, kein Dreck, als hätte man kurz zuvor dort sauber gemacht. War sie nicht die Erste, die auf diese Idee gekommen war?
In ihrem Kopf schwirrten noch die Gedanken, als sie am Takt der Schritte vernahm, wie sich die Person näherte und vor dem Schrank stehen blieb. Hatte ihre Kletterei Geräusche verursacht? Unmöglich, dass sie das alles in absoluter Stille vollbracht haben konnte. Zumindest ihr Habit hatte geraschelt. Sie drückte sich flach auf die Schrankdecke. Gott sei Dank besaß der Schrank vorne ein Gepränge, das sie vor Blicken schützte. Sie hörte ein Räuspern, ein Rascheln. Dann klackte Holz, und ihr lief es heiß über den Körper. Ihre Schuhe waren gefunden worden. Wenn die Nonne, die hier unten Wache hielt und durch die Gänge streifte, ihre Schuhe mitnahm, musste sie zwangläufig entdeckt werden. Sie besaß nur dieses eine Paar. Wenn nicht sogleich, so doch spätestens beim Chorgebet. Am liebsten wäre sie aufgesprungen und hätte sich schreiend ihre Holzpantinen gegriffen. Doch wie hätte sie erklären sollen, wie sie auf den Schrank hinaufgekommen war und was sie dort oben zu suchen hatte?
Die Schritte entfernten sich langsam. Isabella wartete, bis sie keinen Laut mehr vernahm, dann kletterte sie vom Schrank herab. Trotz der Sauberkeit auf dem Möbel war ihr Habit an einigen Stellen staubig und verschmutzt. Ihre Holzpantinen standen noch immer dort, wo sie diese abgestellt hatte. Sie wollte nach ihnen greifen, als sie zurückzuckte.
Die Person hatte die Schuhe in der Hand gehalten. Das hatte Isabella gehört. Sie hatte sie jedoch wieder abgesetzt. Isabella schluckte. Welche Teufelei versteckte sich dahinter? Wenn sie selbst hätte erfahren wollen, ob sich eine der Frauen durch die Gänge stahl, hätte sie die Schuhe stehen lassen und wäre kurze Zeit später zurückgekommen. Wenn sie weg gewesen wären, wäre ihr Verdacht bestätigt worden. Sie musste also vorgaukeln, die Schuhe wären hier vergessen worden.
Schweren Herzens ließ sie die Pantinen stehen und eilte weiter. Jetzt plötzlich kamen ihr die Holzdielen kalt, geradezu eisig vor. Sie lief den Gang entlang bis zu dem Bild. Der Tag neigte sich, und im Gang selbst begann sich Dunkelheit auszubreiten.
Sie kam an einer Tür vorüber, an einem Teppich, doch das Bild fand sie nicht. Nach einer Weile hielt sie inne. Das konnte nicht sein. War sie in eine falsche Flucht eingebogen? Mindestens ein Dutzend Mal hatte sie sich in Gedanken den Weg überlegt.
Zwar hatte Vater immer behauptet, Frauen hätten eine Orientierung wie blinde Gänse, doch wenn sie sich etwas zugute halten konnte, dann war das ihr Orientierungsvermögen. Sie konnte unmöglich falsch gegangen sein. Ebenso unmöglich war es, ein Bild zu übersehen. Doch jeder Irrtum, jede Unterbrechung kostete sie Zeit. Zeit, die ihr für das Neumenbuch fehlen würde. Isabella hastete zurück – und wäre erneut an der Tür vorübergelaufen, wenn sie nicht aufmerksam das Türblatt betrachtet hätte: Es zeigte die Geburt Marias. Mit der flachen Hand hätte sie beinahe gegen ihre Stirn geschlagen, doch sie konnte sich rechtzeitig zurückhalten. Sie hatte zwar ein Bild beiseitegedrückt, doch dieses Bild sah von der anderen Seite aus wie eine Tür. Es war eine gemalte Tür. In ihrer Eile und Aufregung hatte sie das nicht beachtet. Sie berührte das Türblatt und merkte, wie sich die
Weitere Kostenlose Bücher